VIDEO-ÜBERWACHUNG BRINGT WENIG, ABER AUCH DEN ORWELL-STAAT NICHT
: Tausend Kameras in einer freien Stadt

Die Videokameras haben nur zugeschaut. Sie halfen nicht, den Anschlag von London zu verhindern, denn die Attentäter verhielten sich unverdächtig. Die Kameras ermöglichten auch nicht, rechtzeitig Hilfe zu holen, denn der Anschlag war nur ein Sekunden-Ereignis. Sie halfen nicht einmal bei der Strafverfolgung, denn die Täter sind tot, identifiziert wurden sie über persönliche Gegenstände.

Die Videoaufnahmen des Terrorquartetts eine halbe Stunde vor dem Anschlag zeigen unbeschwerte junge Männer mit Rucksäcken. Diese Bilder befriedigen vielleicht die öffentliche Neugier, ein Gefühl von Sicherheit schaffen sie nicht. Wir wissen jetzt, dass Attentäter vor einem Anschlag, der sie vermeintlich ins Paradies bringt, nicht nervös sind. Und? Das Beispiel London zeigt: Flächendeckende Videoüberwachung bringt so gut wie nichts im Kampf gegen islamistische Selbstmordattentäter. Vielleicht lächeln die nächsten Attentäter direkt in die Kamera und ziehen auch noch Fratzen, um uns zu demonstrieren, wie wenig sie die vermeintliche Sicherheitstechnik stört.

Aber London zeigt auch: Eine Stadt mit tausend Kameras kann trotzdem eine freie Stadt sein. Trotz der flächendeckenden Überwachung ist London ein Ort geblieben, in dem die Menschen scheinbar unbeeindruckt von der Videoaufzeichnung auf Plätzen und Straßen ihren Interessen nachgehen. Bisher haben die Briten Videokameras akzeptiert, aber Personalausweise als staatliche Gängelung abgelehnt. Da kann man sich als Deutscher nur wundern. Aber die Frage, was akzeptabel ist und was nicht, ist offensichtlich kulturell bestimmt.

Und Kulturen können sich ändern. Wenn sich eine Gesellschaft gerne beim Einkaufen, Flanieren und in der U-Bahn filmen lässt, weil sie sich dann geschützter fühlt, ist das ihre demokratische Entscheidung – auch wenn es sich hier nur um eine Illusion handelt. Kameras müssen aber verboten bleiben, wenn ihr Einsatz vom Gebrauch der Grundrechte abhält – also dort, wo es um potenziell anstößiges Verhalten geht: den Besuch radikaler Versammlungen, von Bordellen oder Scientology-Kirchen. CHRISTIAN RATH