IM HAUS DER BERLINER FESTSPIELE
: Westberliner Verträumtes

VON DIRK KNIPPHALS

Neulich saßen wir während der Tagung „Kulturen des Bruchs“ in den Pausen im Garten des Hauses der Berliner Festspiele herum. Eine Freundin war aus München gekommen, wohl auch, weil sie für einen Festakt des Verlages, für den sie arbeitete, einen Veranstaltungsort suchte.

„Schön hier“, sagte sie und blickte zwischen den transparenten Fensterfronten des Gebäudes und den schönen, hohen Bäumen im Garten hin und her.

„Ja, schön“, sagte ich, „aber auch ganz schön westberlin.“

„Ja, und?“, fragte sie.

„Wer hier Veranstaltungen macht, kauft sich das alte Westberliner Stammpublikum ein“, sagte ich. Ich hatte im Haus der Berliner Festspiele schon Theatergastspiele erlebt, bei denen ich mich mit jetzt seltsamerweise auch schon Ende vierzig sehr jung gefühlt hatte, vom Altersdurchschnitt her.

„Das ist egal“, sagte sie. Stimmte ja auch. Zu ihrem Verlagsjubiläum würden eh nur geladene Gäste kommen.

„Auch vom Image her“, ergänzte ich.

Auch das schreckte sie nicht.

„Und auch sonst“, sagte ich noch, konnte es aber nicht ausführen, weil andere Menschen zu uns traten und von den Veranstaltungen erzählten, die sie gerade besucht hatten. Dass Gumbrecht sich immer und überall seiner Sportmetaphern bediene. Und ob man sich verhört habe oder ob Lewitscharoff da eben tatsächlich behauptet habe, einmal leibhaftig und in echt Gott gesehen zu haben? (Hatte sie tatsächlich.)

Über mein „auch sonst“ habe ich mir dann später noch einmal Gedanken gemacht. Und ich bin darauf gekommen, dass es diese besondere Form von Lebensverträumtheit ist, die ich in dem Haus der Berliner Festspiele wahrnehme und als so westberlin empfinde; diese Mischung aus Zeitvertändeln und gespannter Vorfreude auf ein Ereignis, das dann aber nie eintritt.

Diese Lebenshaltung ist tatsächlich so sehr mit Westberlin verbunden gewesen wie die freche Schnauze der Kleinbürger und das Gallische-Dorf-Bewusstsein der Kreuzberger. „Eigentlich haben wir immer auf David Bowie gewartet“, sagte irgendwann mal eine Kollegin, die die großen Zeiten des Cafés M noch mitgemacht hatte. Und sie hatte ergänzt: „Der ist dann zwar nie gekommen, aber das machte gar nichts, denn dafür hat man ja andere Menschen getroffen und sowieso seinen Spaß gehabt.“ In den Schriften von Botho Strauß, so westberlin wie der Mercedes-Stern auf dem Europa-Center, stieß man immer wieder auf die Gedankenfigur des Blitzes, der aus heiterem Himmel in das Leben der Menschen fährt, wenn schon nicht erlösend, so doch zumindest erotisierend. Und die Tschechow-Inszenierungen Peter Steins an der Berliner Schaubühne haben dieses innere Zittern zwischen melancholischer Langeweile und Erwartungssehnsucht auf Weltklassetheaterniveau gehoben.

Man kann da wahrscheinlich eine ganze Mentalitätsgeschichte erzählen. Anders leben, das war schließlich der Kernanspruch, mit dem all diese Menschen einst nach Westberlin gezogen sind – und wenn sie es auf Dauer doch nicht schafften, diesen Anspruch in die Tat umzusetzen, wollten sie noch lange mit offenen Augen von ihm träumen; hier auf der Westberliner Insel, geschützt vor dem Karriere- und Sicherheitsdenken der alten Bundesrepublik.

Manchmal weht mich so eine Stimmung heute noch an. Wenn in der Goltzstraße die Menschen allein vorm Café sitzen und versunken in der Zeitung lesen. Bei mir um die Ecke, wenn der Schuster aus seinem kleinen Laden, den er schon seit dreißig Jahren führt, tritt und eine Zigarette raucht. Aus irgendeinem Grund sehr zuverlässig, wenn ich oben in einem Doppeldeckerbus sitze, eine sehr verträumte, schwebende, fast königliche Art der Fortbewegung, die man, von der Linie 100 abgesehen, nur im Westen haben kann; Ostberlin hat dafür seine ruckelnden Trams – die ganz und gar nichts Verträumtes haben.

Und eben immer, wenn ich im Haus der Berliner Festspiele bin. Wobei dort das Westberliner Verträumte vielleicht bald verblassen dürfte. Mit Thomas Oberender wurde jetzt jemand Hausherr, der mit Westberlin so wenig zu tun hat wie das Kaffee Burger oder der Prater. Vielleicht bleibt das Verträumte aber noch ein bisschen. Die Erfahrung zeigt, dass manche Westberliner Zustände ziemlich hartnäckig sind.