berlin viral: Ein Lob der Spaltung
Es ist jeden Morgen dasselbe. Kaum blättere ich die ersten Seiten des Internets auf, schlägt mir lautes Gebrüll entgegen. Pandemie ist nur ein anderes Wort für: Alle hassen alle. Es wird nie wieder so werden, wie es mal war. Ich bin mir sicher, träfe der zum Glück nur theoretische Fall ein, dass wir uns eines Tages wieder in der Kneipe gegenübersäßen, gäbe es sofort Mord und Totschlag.
Leute, die sich dann über ein Jahr lang als „wichsende Internettrolle“ bezeichnet hätten – und das sind noch diejenigen, die sich gut verstehen –, sollen plötzlich wieder ruhig miteinander reden? Im selben Raum, ohne Polizei, trennende Gitterstäbe oder den immerhin physisch schützenden Mantel der Virtualität? Das ist, als würde man eine Gang tollwütiger Wiesel erst an den Schwänzen anzünden und dann zusammen in einen winzigen Käfig sperren.
Dennoch hört und liest man nun sehr oft denselben windelweichen Quatsch: Man solle mehr aufeinander zugehen, bitte schön recht zackig die Versöhnung suchen und die Gesellschaft nicht noch weiter spalten.
Höre ich dieses „aufeinander zugehen“, sehe ich vor meinem geistigen Auge immer nur zwei Horden, die mit Sensen und Dreschflegeln bewaffnet in einer riesigen Staubwolke aufeinander losstürmen. Da möchte ich weder im Weg stehen noch auch nur einer dieser beiden Horden angehören.
Und die Versöhnung? Oft tauschen sich nun „die anderen“ (Arbeitstitel) darüber aus, dass man ja nach jener „künstlich aufgebauschten“ Pandemie nicht nur die „Verantwortlichen bestrafen“ – und damit meinen sie nicht diejenigen, deren Opportunismus Menschenleben gekostet und paradoxerweise auch die Wirtschaft mit ruiniert hat –, sondern leider auch noch uns Mitläufern, Schlafschafen und Pestknechten um des lieben Friedens willen ein „Versöhnungsangebot“ unterbreiten müsse.
Zu gütige, liebe andere, danke. Aber ich scheiße auf euer Angebot. Erst mir in die Fresse schlagen und mir dann dieselbe Hand entgegenstrecken, damit ich mich bei euch entschuldigen kann? Bleibt schön, wo ihr seid. Und steckt mich bloß nicht an.
Früher fielen Gräben nur nicht auf
Was haben die Leute überhaupt immer gegen eine Spaltung der Gesellschaft? Ich will mit denen so wenig zu tun haben wie sie mit mir – ich soll mir bloß wieder ihren Senf anhören, meiner interessiert sie nach wie vor nicht. Außerdem war die Gesellschaft doch schon immer tief gespalten. Die sozialen Medien machen das jetzt nur sichtbarer – in meinen Augen übrigens auch ihre einzige konstruktive Leistung, außer der niedlichen Zwergotterfamilie, der man beim Fressen zusehen kann. Denn früher wurden die schlimmsten Gräben einfach stillschweigend akzeptiert – sie fielen nicht auf, weil sie keiner thematisierte. Marginalisierte konnten sich schlechter untereinander vernetzen. Sie hatten keine Stimme und merkten nicht, wie viele sie eigentlich waren. Die Kehrseite der Medaille: Dieselben sozialen Medien sind natürlich auch den anderen Tummelplatz, Echokammer und Gummizelle in einem.
Alles in allem wäre eine saubere Spaltung hier doch endlich einmal sinnvoll. Ich denke, gerade für besagten Frieden wäre es schlicht am besten, wir blieben so weit wie möglich gespalten und hätten entsprechend wenig Kontakt. Das wäre Vanillepudding für die Seele, ein warmer Strickpulli für die Nerven: hier die einen, dort die anderen, und jeder macht in Ruhe sein schwachsinniges, kleines Ding. Genau darin liegt das ungeheure Potenzial der Spaltung, ihre heilende Wirkung auf die Gesellschaft, indem man trennt, was zusammen nicht mehr funktioniert – in der Chirurgie heißt das Amputation: keine schöne Sache, aber manchmal lebensrettend. Uli Hannemann
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