bücher für randgruppen
: Reise in die Mitte der Gesellschaft: Der Tunten-Trash-Filmemacher Walter Bockmayer erzählt sein Leben

Er sitzt in der Sonne seiner Wahlheimat Miami und erinnert sich. Gewisse Neigungen zu Fummel, Theater und Show werden in seiner Rolle als Messdiener erstmals geweckt, das Weihrauchgefäß erinnert an eine Handtasche. In dem pfälzischen Provinznest Fehrbach durchlebt ein junger Mann die verklemmte Welt der Siebzigerjahre, inklusive Razzia im Kino.

Die Behörden suchen nach minderjährigen Zuschauern im Film „Jazz Festival in New Orleans“ – für die ist der Eintritt streng verboten. Der Filmemacher Walter Bockmayer lädt ein, seine Lebensgeschichte zu lesen. Wir erfahren von frühen Neigungen zu tragischen Schlagertrinen wie Rex Gildo, von ersten sexuellen Erlebnissen mit Filmvorführer und Kaplan. Dass dabei ein Teil der Misereor-Kollekte für Liebesdienste in Schallplatten umgesetzt wurde, war sicher eine gute Zukunftsinvestition. Als Pfleger verpasst er Machos Einläufe, dass sie zu kleinen Häufchen Elend werden. Wenn auch die nachfolgenden Beschreibungen der Sexszenen recht derb scheinen, so wirken sie auf den zweiten Blick fast unschuldig, gar keusch. Meist klingen sie wie die Beschreibungen von leckeren Mahlzeiten. Im Gegensatz zu Rosa von Praunheim, dem er eher distanziert gegenübersteht, kämpft Bockmayer keinen Kampf für die Rechte der Schwulen, greift Gesellschaftsstrukturen nicht an, sondern fordert lediglich persönliche Offenheit. Er glaubt, dass sich auf diese Weise alles von selbst emanzipiere und Teil des Ganzen werde.

Zu diesem Wunsch nach Integration gehört vermutlich auch das Geständnis, nach dem ersten erzwungenen Analverkehr diese Praktik nie mehr ausgeübt zu haben. Irgendwann finden sich Bockmayer und sein Freundeskreis, Hella von Sinnen, Ralf Morgenstern und Dirk Bach, in den Rollen liebenswerter Ulknudeln und Komödianten – mitten in der Gesellschaft, unter allseits großer Zustimmung dieser. Aber teilen sie darüber hinaus eigentlich noch etwas Interessantes, Spannendes und Unerhörtes mit, etwas, was noch niemand wusste? Oder bedeutet das Resultat ihrer Reise in die Mitte der Gesellschaft nicht den Untergang in den Aquarien drittklassiger Kakerlakenshows auf RTL und fader Sat.1-Comedy?

Erleben wir die Rache lustiger Lesben und Schwuler im unfreiwilligen Camp des Mainstreams, der ihnen so lange die Türen verschloss, bis einer deformiert als Witzfigur aus dem Fenster sprang? Hossa! Der Kampf um einen Platz in der Mitte mit den Accessoires der Tuntensubkultur ist längst gewonnen. Deshalb klingt diese Biografie irgendwie sentimental und gar nicht so frisch, wie sie wohl klingen sollte: Koksorgien mit Fassbinder, Filmfestival bei Imelda Marcos und immer wieder enthusiastisches Beschreiben eigener großer Erfolge. Die Geschichte einer vergangenen Zeit, die vermutlich nicht so fröhlich war, wie sie sich gibt. Tabea Blumenschein, hier bezeichnet als „erfolgreiche Malerin“, die sich „von der Kostümschneiderei abwandte“, lebte in dieser Zeit obdachlos von Sozialhilfe, sprach darüber offen im Interview mit Tempo-Redakteurin Biggi Knop. Bockmayer hat schrägen Tuntentrash wie die „Geierwally“ gedreht. Seine Single „Ein Klo im Altbau“ ist ein Meisterwerk der Banalität, und seine Kultkneipe „Filmdose“ war Treff von Deutschrockstars wie Marius Müller-Westernhagen. Aber er möchte offensichtlich alle nur als Gewinner sehen.

Und wenn er Fassbinders Orgien in düsteren Sexclubs kommentiert mit: „Jedem das Seine, sage ich da nur“, dann nötigt sich zum Ausgleich unbedingt ein Blick in Flauberts bei Eichborn Berlin wieder aufgelegtes „Wörterbuch der gemeinen Phrasen auf – bis heute die geschmackvollste Sammlung dummer Weisheiten. WOLFGANG MÜLLER

Walter Bockmayer: „Flammende Herzen. Mein Leben“. dtv München 2005, 351 Seiten, 14,50 Euro Gustave Flaubert: „Wörterbuch der gemeinen Phrasen“. Eichborn Berlin, 2005, 216 Seiten, 16,90 Euro