Treu und Redlichkeit

Wozu die Aufregung um Schleichwerbung bei der ARD? Die Skandale sind Symptom des moralischen Wandels einer Gesellschaft, zu deren präziser Abbildung die Öffentlich-Rechtlichen verpflichtet sind

VON MARTIN REICHERT

Eigentlich ist der Wandel des Autombilherstellers Audi vom Seniorenausstatter zur Nobelmarke Professor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik zu verdanken: Stets mit überhöhter Geschwindigkeit lenkte er seinen turbogeladenen Audi 200 durch das Glottertal und machte den Wagen chefarzttauglich. Derrick fuhr von Anfang an BMW, und Liebling Kreuzberg futterte Götterspeise – allerdings namenlose, weshalb man eine solche Vorgehensweise in Marketing-Kreisen als „generic placement“ bezeichnet.

Auf das derzeit angesichts des ARD-Skandals ausgerufene „O tempora, o mores!“ möchte man singend antworten: „Es war immer so, es war immer so …“. Alles kleine Sünderlein. Allerdings musste Audi damals nicht auch noch dafür bezahlen, dass es seine Fahrzeuge kostenlos zur Verfügung stellen durfte. Und während Manfred Krug in der ARD politisch korrekt No-Name-Grütze löffelte, war das ZDF als Adenauer-Sender ja schon immer irgendwie verdächtig, mit dem Kapitalismus im Bunde zu sein. „Ja, ja, Schleichwerbung“, so schmunzelte man in den Zeiten, als Fernsehen noch „Unterhaltung für die ganze Familie“ war und man sich nach 20 Uhr vor Werbeattacken im öffentlich-rechtlichen Rundfunk rundum sicher wähnte: Frank Elstner hätte einem nie und nimmer die Gummibärchen vorne und hinten reingeschoben, sie standen ja ohnehin schon auf dem Couchtisch.

Vorbei diese Zeiten, vorbei. Die gute alte ARD ist genauso untergegangen wie die gute, alte BRD. Ein „Tatort“ wird bei der ARD schon lange nicht mehr in den eigenen Studios produziert, sondern von externen Produktionsfirmen. Da rutscht dann, wie im Falle des SWR-Tatorts schon mal ein Joghurt-Becher der Firma Bauer für rund 17.000 Euro ins Bild – der ganze Stil ist ein anderer geworden. Während man früher in den öffentlich-rechtlichen Anstalten rundumversorgt der sicheren Verrentung entgegendämmern konnte, wurschteln nun in deren Umfeld Menschen, die „was mit Medien“ machen vor sich hin. Und während Medienschaffende mit Zeitverträgen allen Grund haben, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, gibt es andere Menschen dieser Sorte, die nie genug kriegen. Es reicht immer nicht, für die Finca, für das Harvard-Studium der Tochter, für die Yacht: Trotzdem man sich wichtig und mächtig wähnt, haben die anderen immer mehr als man selbst, vor allem die anderen „Leistungsträger“ aus der Wirtschaft.

Der Niedergang der ARD? Nein, die ARD hat sich verändert, so wie das ganze Land. Die Bundesrepublik gibt es nicht mehr, und seit ihrem stillen, da inoffiziellen Ableben wird in diesem Land mit härteren Bandagen gekämpft, werden andere, teurere und den Zeitumständen entsprechende Drogen genommen. Die Kollegen von Sat1 könnten jenseits von Bundestag und Europaparlament noch viele Toiletten putzen und am besten bei ihren eigenen anfangen.

Die ARD, krisengeschüttelt, Volkswagen, affärenüberhitzt: bundesrepublikanische Institutionen, die immer identitätsstiftend waren. Solide, seriös, ehrlich. Betrieblich mitbestimmt produzierte Brot & Butter Autos und politisch ausgewogene Berichterstattung. Und nun fragt Bild indigniert ob der neuen Lotterrepublik: „Politisch korrekt sind wir ja in Deutschland. Aber wie steht es mit Anstand und Vertrauen, mit Treu und Glauben?“

Ja, es ist wahr: Adieu, rheinischer Kapitalismus, Adieu, preußischer Sozialismus. Deutschlands „langer Weg nach Westen“ bedeutet eben auch, dass „Vater Staat“ seine Kinder loslässt. Und wer keine Fürsorge mehr empfängt, fühlt sich auch nicht mehr verpflichtet zu tun, was der Herr Vater so wünscht, solange man seine Füße unter seinem Tisch parkt. Zum Beispiel Treu und Redlichkeit üben.

Die ARD ist Deutschland. Ihre Angestellten sitzen überall in Deutschland, ob in Baden-Baden oder Berlin, und leben von den Gebühren ihrer Audi oder VW fahrenden Nachbarn aus den umliegenden Reihenhäusern und Eigentumswohnungen. Sie üben sich in Nepotismus und bringen ihre Kinder beim Sender unter. Sie kaufen sich solarbetriebene Gartenleuchten und gehen italienisch essen, investieren in Immobilien und versuchen das Finanzamt zu bescheißen, so gut es eben geht. Einige wenige ARD-Menschen sind korrupt, die meisten nicht. Preußisch-treue Beamte sind sie nicht. Voll normal.