Das große Schilybuster

Fünf Stunden und 16 Minuten: Vor dem Visa-Ausschuss redet der Innenminister die Opposition mit der amerikanischen Filibuster-Technik platt

„Mit meinem Freund Joschka Fischer verbindet mich eine jahrelange erfolgreiche Zusammenarbeit“

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Um kurz vor zwölf gerät der Zeuge Schily doch noch in Gefahr. Nichts hatte den Innenminister bei seinem Auftritt im Visa-Untersuchungsausschuss bis dahin aus der Ruhe bringen können. Keine Zwischenfrage kritischer Unionspolitiker. Keine Aufforderung, sich bitte kurz zu fassen. Drei Stunden hat Otto Schily sein Recht zum Eingangsstatement nun schon genutzt – bis ihm der erste Fehler unterläuft. Der Minister muss um Hilfe rufen: „Jetzt brauche ich einen Lappen.“

Schily war gerade dabei gewesen, den ungefähr siebenhundertdreiundzwanzigsten Aktenvermerk wortreich zu erläutern. Ein Unionsmann wollte wissen, wo der genau zu finden sei. Moment bitte, sagte Schily, griff nach einem Leitz-Ordner und schmiss damit versehentlich ein Glas Wasser auf seinem Zeugentisch um. Als der Ausschussvorsitzende Hans-Peter Uhl von der CSU nicht sofort reagiert, jammert Otto Schily: „Ich will hier nicht im Nassen sitzen.“

Es bleibt ihm erspart. Der einzige spektakuläre Zwischenfall, der den endlosen Vortrag des Innenministers kurz auflockert, hat keine schlimmen Folgen. Der Tisch wird doch noch abgewischt, Schilys Hose bleibt trocken. So trocken wie sein Vortrag, den er nun fortsetzen kann. Ein Vortrag, mit dem er die Oppositionspolitiker platt redet, eine deutsche Abwandlung des Filibuster, jener Endlosreden, mit denen US-Parlamentarier Entscheidungen hinauszuzögern oder sogar aufzuhalten pflegen.

Am Anfang hat Schily noch erklärt, er sei „nicht der oberste Sachbearbeiter“ seines Ministeriums. Doch genau so tritt er auf. Gnadenlos sachlich und langatmig. Es folgen weitere nüchterne Analysen zum Sachverhalt siebenhundertvierundzwanzig bis zum Visaproblem tausendzweihundertneunundachtzig.

Am Ende bescheinigt sich Schily selbst eine „gute Leistung“. Kurz vor seinem 73. Geburtstag am kommenden Mittwoch hat der Innenminister jedenfalls noch einen neuen Rekord aufgestellt. So lange wie er hat noch niemand im Untersuchungsausschuss gesprochen. Sein Solo dauert geschlagene fünf Stunden und 16 Minuten. Die Vertreter der Opposition toben. Der FDP-Ausschussobmann Helmut Königshaus spricht von einem „unwürdigen Schauspiel“, Schily habe an den eigentlichem Ausschussthema, den Ursachen für die Fehler der rot-grünen Visapolitik, vorbeigeredet. Sein CDU-Kollege Eckart von Klaeden vermutet – wohl zu Recht –, Schily sei es nur darum gegangen, das Fernsehpublikum einzulullen und zu verhindern, dass noch jemand zuschaut, wenn die Opposition mit ihrem Kreuzverhör beginnt.

Was Union und FDP jedoch vor allem verzweifeln lässt: Schily bietet ihnen keine neuen Angriffsflächen. Das Wichtigste hat er schon in den ersten fünf Minuten gesagt, der Rest ist nur noch Beiwerk. Seine Grundbotschaft ist alles andere als eine Sensation, die sich im Wahlkampf ausschlachten ließe. Erstens betont Schily: Für die Visapolitik der Regierung, also auch für alle Fehler, die nach den Erlassen von 1999 und 2000 zu Missbrauch führten, ist er im Zweifel nicht zuständig. Zuständig sei „ausschließlich“ das Auswärtige Amt. Also Außenminister Joschka Fischer. Den wird dies jedoch kaum erschüttern. Schließlich hatte er schon bei seinem eigenen Auftritt vor dem Ausschuss die Verantwortung für alle Fehler übernommen und umstandslos erklärt: „Schreiben Sie rein: Fischer ist schuld.“ Für den Grünen war der Fall damit erledigt. Obwohl er aus seinem Schuldeingeständnis keine Konsequenzen zog, erlahmte das Interesse der Medien an der Visa-Affäre danach fast vollkommen. Fischer ist längst wieder das, was er vorher war: ein gefeierter Wahlkampfredner, selbst von konservativen Zeitungen nicht mehr mit Visavorwürfen behelligt. Auch Schily macht schnell klar, dass er nicht daran denkt, den Kollegen mit neuen Vorhaltungen über bislang unbekannten Fehler oder gar mit Grundsatzkritik zu belasten: „Mit meinem Freund Joschka Fischer verbindet mich eine jahrelange erfolgreiche Zusammenarbeit.“ Die Hoffnung der Union, Schily könne eine Art Kronzeuge gegen Fischer spielen, erfüllt sich nicht.

Interessant ist nur, wie Schily damit umgeht, dass auch er als Herr des Bundesinnenministerium nicht unvollkommen ist. Dass seine Mitarbeiter am Zustandekommen von fehlerhaften Visa-Erlassen beteiligt waren. Das passt nicht zu seinem Image als Law-and-Order-Mann. Das passt nicht zu Schilys Credo: „In meinem Ministerium darf jeder das tun, was ich will.“ Als geübter Anwalt räumt Schily ein, was nicht zu leugnen ist. „Ungeachtet der insgesamt erfolgreichen Arbeit des Bundesinnenministeriums ist leider festzustellen, dass auch innerhalb des BMI in einzelnen Arbeitsbereichen vereinzelt Fehler bei der Behandlung von Visa-Angelegenheiten aufgetreten sind.“ Aber nur „auf unterster Arbeitsebene“ und ohne dass er, Schily, davon etwas wusste. Es gebe deshalb „keinen Grund zu irgendeinem nennenswerten Vorwurf gegen mich persönlich“.

Er selbst habe, als er von den Visa-Erlassen erfuhr, eingegriffen und gewarnt. Sein Kollege Joschka Fischer habe leider spät, aber schließlich doch noch richtig reagiert und die gröbsten Probleme abgestellt.

Die restlichen fünf Stunden dienen nur dazu, alles aufzuzählen, was Schily für die Sicherheit des Landes geleistet hat.