In der Notaufnahme
: Elendsforschung

Schön wie das Zittern eines Alkoholikers

Manche sitzen in der Notaufnahme, um Kasse oder Privat zu raten und eine Ferndiagnose zu stellen. Wie z. B. der zu einem Mann umgebaute Schriftsteller Simon Borowiak. Eigenartiges Hobby, aber auch nicht eigenartiger, als inmitten nackter Menschenmassen in der Sonne zu braten. Borowiak hat große Erfahrungen in der Elendsforschung gesammelt und ist ein Fachmann. Aber manchmal ist das Gebiet selbst für einen Laien wie mich gar nicht schwer.

Kasse, wenn überhaupt, und gaga, vermute ich, als ein Mann in leicht verwahrlostem Zustand und flatternden Hosenbeinen durchs Wartezimmer der Notaufnahme des Urban-Krankenhauses schlurft und mir als einzig Anwesenden mit finsterem Gesicht mitteilt, wer alles ein „verfickter Arsch“ sei, dabei kenne ich gar keins von den Ärschen. Und das liegt nicht an den 40 Grad Fieber, mit denen ich mich in die Notaufnahme geschleppt habe, wo ich sodann im Gang abgestellt werde. „Keine Papiere?“, fragt ein Pfleger. Er meint nicht mich, sondern eine Samariterin, die ein Delirium Tremens angeliefert hat. „Kannste gleich wieder mitnehmen. Wir haben hier schon einen polnischen Alkoholkranken.“ Dann gerate ich in sein Blickfeld. Er guckt kurz in mein schmales Krankendossier. Theatralisch ruft er aus: „Warum bringt ihr mir nicht mal so einen vorbildlichen Kranken?“

Ich bin viel zu sehr mit Schwitzen beschäftigt, als mich geschmeichelt zu fühlen. Immerhin werde ich in ein Behandlungszimmer abgeschoben, dort allerdings vergessen. „Wie heißen Sie? Ihr Name? Machen Sie die Augen auf! Hören Sie mich?“, höre ich eine Schwester laut auf den polnischen Alkoholkranken einteufeln. Keine Reaktion. Sie gibt auf. Ich sehe die Füße des polnischen Alkoholkranken. Sie zucken. Schön wie das Zittern der Füße eines Alkoholikers, rauscht mir eine schöne Formulierung durch den Kopf, dann mache ich Feierabend. KLAUS BITTERMANN