VOM SCHÖNEN DES MIT-SICH-SELBST-REDENS UND SCHMERZEN, FÜR DIE ES KEIN WORT GIBT: FRÜHMORGENS AM STADTPARK
: Wo die Ampel tutet

ROGER REPPLINGER

An der Ecke Hindenburgstraße/Jahnring steht ein Bushäuschen. Blöde Werbung dran. Oft sitzt ein Mann drin, um die sechzig, lichtes Haar. Fährt aber nie mit dem Bus. Bleibt sitzen, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. Sitzt noch da, wenn ich, wenn’s gut läuft, nach 27 Minuten wieder hier vorbei komme.

Wenn ich um sechs laufe, geht er manchmal den Weg parallel zum Südring runter. Spricht mit sich. Nicht laut. Nickt. Als es diese kleinen Telefonhörer noch nicht gab, die man nicht sieht, und diese Dinger am Ohr, die wie Schaben aussehen, redeten alle Menschen, die auf der Straße laut sprachen, mit sich selbst. Heute dagegen sagen einige von denen mit Schabe am Ohr: „Warum konnten die in Mainz die Excel-Tabelle nicht öffnen?“ Und: „Gib’ Malte einen Gutenachtkuss von mir.“ Und, im Café auf der weißen Ledercouch sitzend: „Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof, kann sein, die Verbindung wird gleich schlecht.“ Je besser die Technik, umso leichter die Lüge.

Interessanter sind die, die immer noch mit sich selbst reden. Wir reden ja alle ständig mit uns. Die meisten im Kopf und stumm. Der, mit dem wir da im Kopf reden, ist unser alter Ego, oder, wie das bei Immanuel Kant heißt: die Menschheit. Mit diesem Partner diskutieren wir alles. Ich rede außerdem mit meinem Rad, das sprechen kann, und mit meinem Computer, der stumm ist. Im Stadtpark reden fast alle Hundebesitzer mit ihrem Hund. Die aber antworten nicht, gucken nur. Miteinander sprechen Hunde durch bellen und pinkeln. Deshalb halten sich Menschen Hunde.

Der Mann, der den Weg parallel zum Südring runter geht, trägt Sandalen und abgeschabte weiße Socken. Das sehe ich, wenn ich zwischen die Sohle der Sandale und die Socke gucke, während ich an ihm vorbei laufe. Er ist auf dem Weg ins Bushäuschen. Er geht nicht in die Winterhuder Werkstätten.

Wenn ich mit dem Training fast fertig bin, den Borgweg Richtung Barmbeker Straße runter laufe und hoffe, dass die Ampeln grün sind, weil ich sonst bei Rot über die Straße laufen muss, dann steigen an der Bushaltestelle oberhalb des Goldbekwegs alle aus, die in die Blindenstiftung oder die Winterhuder Werkstätten wollen. Manche in Begleitung, manche mit einem Stock, mit dem sie den Bürgersteig abtasten, um den Weg zu finden. Sie gehen am Südring, an dem die Ampel tutet, links. Andere humpeln, sitzen im Rollstuhl und werden geschoben oder haben einen mit Motor, wieder andere haben die Augen fest auf den Boden gerichtet. Am Südring rechts.

Wenn ich es bis hierher geschafft habe, bin ich im Einklang mit mir – mehr als bei irgendetwas, das ich tue. Außer schreiben. Ein bisschen erschöpft, mit viel Sauerstoff im Kopf, nass geschwitzt, mit diesem Gefühl, das einem Sport gibt: genau jetzt, genau hier zu sein. Je nachdem, wie schnell und wie weit ich gelaufen bin, tut es ein bisschen weh. Für den Schmerz, den die Begegnung mit denen bringt, die auf dem Weg in die Blindenstiftung oder die Winterhuder Werkstätten sind, hab ich kein Wort.