Eine stille Mehrheit links

Die amerikanische Linke entdeckt Marx wieder neu und hofft auf ein politisches Erstarken. Und auch der Mainstream gesteht ein, dass Amerika eine Klassengesellschaft ist, und misstraut der Ideologie der uneingeschränkten sozialen Mobilität: In den USA wächst das Unbehagen am Kapitalismus

„Je länger ich an der Wall Street arbeite, desto mehr glaube ich, dass Marx Recht hatte“

VON SEBASTIAN MOLL

John Cassidy, Wirtschaftskorrespondent des großbürgerlichen Kulturmagazins New Yorker, entstieg gerade dem Pool seines Wochenendhauses auf Long Island, als ihn sein Studienfreund, ein Wall-Street-Investmentbankier, mit einer eigenartigen Bemerkung schockte. „Je länger ich an der Wall Street arbeite“, rezitierte Cassidy die Worte des Freundes in seiner Kolumne, „desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass Marx Recht hatte.“

Der Austausch veranlasste Cassidy dazu, sich nach langen Jahren wieder einmal „Das Kapital“ und „Das Kommunistische Manifest“ vorzunehmen. Dabei machte er verblüffende Entdeckungen. Wenn Marx nicht über den Gang der Geschichte philosophierte, so der Journalist, war er ein weitsichtiger Diagnostiker des Kapitalismus: „Das Kommunistische Manifest ist voller mitreißender Passagen über Globalisierung, Ungleichheit, politische Korruption, technischen Fortschritt – alles Themen, an denen sich heute Wirtschaftswissenschaftler abarbeiten, oft ohne zu wissen, dass sie in die Fußstapfen von Marx treten.“

Cassidy ist in Amerika nicht allein mit seiner Entdeckung der Aktualität marxistischer Gedanken. Der Aufstieg und Fall der New Economy sowie die katastrophalen sozioökonomischen Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik auf nationaler und globaler Ebene haben in den USA zumindest für eine intellektuelle Elite marxistische Kategorien wieder salonfähig gemacht. Nachdem sich die Linke Anfang der Neunzigerjahre weitgehend der Kultur gewidmet hatte, diskutiert sie jetzt wieder Begriffe wie Monopolisierung und Akkumulation und lenkt die Aufmerksamkeit vom Konsumenten als Agenten des Marktes zurück auf die Firmen – oder auf das, was bei Marx die Bourgeoisie hieß.

Erst in diesem Frühjahr lief in der nicht eben radikalen New York Times eine große Serie mit dem Titel „Class in America“. Die Serie war ein Eingeständnis des Mainstreams, dass Amerika eine Klassengesellschaft ist. Der noch größere Skandal war: Die Serie entlarvte die amerikanische Ideologie der uneingeschränkten sozialen Mobilität als verlogen.

Im selben Blatt polemisiert Woche für Woche der Kolumnist Paul Krugman erbittert gegen den „Klassenkampf“ der Bush-Regierung. Die geplante Privatisierung der Sozialversicherung ist ebenso eines seiner Lieblingsthemen wie das Fehlen erschwinglicher Krankenversicherungen. Den geplanten Staatshaushalt für das Jahr 2006 nennt Krugman eine „Kriegserklärung gegen die Unterprivilegierten des Landes“ und „Mundraub an Kleinkindern“. 97 Prozent der geplanten Steuererleichterungen, so Krugman, gingen an Haushalte mit über 200.000-Dollar-Jahreseinkommen, und der Haushalt beinhalte „grausamste Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie im Umweltschutz“. Dennoch brächten sie nur 66 Milliarden an Einsparungen, während eine angemessene Besteuerung der höheren Einkommen 120 Milliarden an Einahmen versprächen.

Jener Klassenkampf von oben ist laut dem Historiker und Bestseller-Autor Thomas Frank allerdings keine Erfindung von Bush. Vielmehr ist er Resultat eines Wertewandels, der sich im Aufstieg der New Economy Mitte der Neunzigerjahre vollzog. Einst, so Frank, sei es als Stärke des amerikanischen Systems angesehen worden, dass es selbst der Arbeiterklasse gut ging. Von Henry Ford bis Nixon wurde die „Überflussgesellschaft“ gepriesen, in der es nur noch eine, nämlich die Mittelschicht gebe. Die New Economy, so Frank, habe jedoch den alten Glauben daran, dass Freiheit und Demokratie nicht möglich seien, solange es Armut gibt, auf den Schutthaufen der Geschichte geworfen. Der neue Konsens der Machtelite in Amerika sei es, dass Demokratie und der freie Markt gleichbedeutend seien. Damit einher gehe eine beispiellose und kaltschnäuzige Akzeptanz massiver ökonomischer Ungleichheit.

Die Wurzeln dieses Marktfundamentalismus, der die Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile vom Wohlstand einfach hinnimmt, sieht die sich neu formierende linke Kritik in Amerika im Rückblick bereits in der Wirtschaftspolitik des Demokraten Bill Clinton am Werk. Der Soziologe Richard Sennett, der sich in den vergangenen Jahren mit den Auswirkungen des Kapitalismus auf das Privatleben der Menschen in Amerika beschäftigt hat, sagt: „Die Bush-Leute haben sich als genau die Bastarde herausgestellt, die man aus dieser Ecke erwartet hat. Die wirkliche Enttäuschung war hingegen Clinton. Viele Linke hatten zu Beginn der Neunzigerjahre große Hoffnungen in ihn gesetzt.“ Etwa der New Yorker Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz, der 2001 den Nobelpreis für seine Arbeit über Informationsasymmetrien auf globalen Märkten erhielt. Stiglitz war Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung, bevor er 1996 als Chefökonom zur Weltbank ging. Heute ist er ein unermüdlicher Kämpfer für die Regulierung globaler Märkte. Seine Organisation „Initiative for Policy Dialogue“ will das Monopol der Weltbank und des Weltwährungsfonds auf die weltweite Entwicklungspolitik brechen.

In seinem neuesten Buch „The Roaring Nineties“ erzählt er, warum er sich mit Clinton überwarf: Clinton habe die Reduzierung des Staatsdefizits zum Zweck an sich erhoben und sei dazu auf den neoliberalen Deregulierungszug aufgesprungen. Bei der Deregulierung der Telekommunikations- und der Finanzbranche, so Stiglitz heute, habe Clinton massiven Schaden angerichtet: „Wir hätten eine reformierte Regulierung gebraucht, keine Deregulierung.“

Der wirtschaftspolitische Rechtsruck von Clinton hat Linke wie Stiglitz politisch obdachlos gemacht. Bill Greider, Wirtschaftschef der linken Wochenzeitung The Nation und Autor des Buchs „The Soul of Capitalism“, etwa sagt im Gespräch: „Das Establishment beider Parteien hängt heute einem globalen Marktfundamentalismus an.“ Dennoch ist er optimistisch: „Ich glaube, dass es heute eine stille Mehrheit links beider Parteien gibt. 80 Prozent der Amerikaner misstrauen heute den großen Firmen.“ In den letzten fünf Jahren, so Greider, sei die wirtschaftliche Stagnation nicht nur in der Arbeiterklasse zu spüren. „Viele Angehörige der gebildeten Mittelschicht spüren massiven wirtschaftlichen Druck.“ Deshalb hofft Greider stark auf eine politisierte Linke in Amerika. Noch sei diese jedoch „inkohärent und zerstreut“. Nach den Demonstrationen anlässlich des WTO-Kongresses 1999 in Seattle sowie der Weltbank und des internationalen Währungsfonds in Washington im Jahr darauf habe es jedoch erstmals Hoffnung auf so etwas wie eine neue linke Bewegung gegeben. Aber, so Greider skeptisch: „Die Bewegung von damals hat sich zu sehr in die WTO und den Weltwährungsfonds verbissen. Sie versucht die Orthodoxie mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen. Sie versucht, in einer Welt, die verrückt geworden ist, rational zu bleiben.“ Stattdessen müsse die Linke die Politiker mit den harten ökonomischen Realitäten konfrontieren und zur Ehrlichkeit zwingen.

Vielleicht liegt der Grund, dass das wachsende Unbehagen am amerikanischen Kapitalismus sich noch nicht in einen kohärenten Widerstand übersetzen lässt, auch daran, dass sich Ungleichheit und Ungerechtigkeit in Amerika nicht auf die Ökonomie reduzieren lassen. Mitte der Achtzigerjahre hatte sich die amerikanische Linke beinahe vollständig auf die kulturellen Ungerechtigkeiten von Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung kapriziert. Heute ist die Herausforderung, diese Ansätze und den neuen Materialismus miteinander zu vereinigen.

So weist die Feministin Nancy Fraser sowohl auf die Notwendigkeit hin, die Verzahnung von wirtschaftlicher und kultureller Diskriminierung genauso im Blick zu behalten wie beide Probleme gesondert politisch anzugehen. Einen ähnlichen Weg sucht der schwarze Bürgerrechtler Cornel West: Das schwarze Problem als Problem der Klasse zu fassen ist für ihn eine Strategie, Amerikas gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die schwarze Bevölkerung in den Großstadtghettos anzumahnen.

Solche Analysen sind freilich Produkte einer intellektuellen Elite. Es besteht weiter die Gefahr, dass es trotz wachsender offenkundiger wirtschaftlicher Ungleichheit und fortbestehender Diskriminierung nie eine machtvolle amerikanische Linke geben wird. Richard Sennett etwa sagt, er unterhalte sich oft mit Naomi Klein über den merkwürdigen Erfolg ihrer Bücher in Amerika: „Die Verkaufszahlen sind toll und wir werden mit Lob überhäuft.“ Die Dringlichkeit der Themen scheint jedoch niemanden so recht zu berühren. Sennett und seinesgleichen werden als Salon-Klassenkämpfer vorgeführt. Bis nach Washington dringen ihre Stimmen bislang nicht.