die taz vor fünfzehn jahren: kanzlerkandidat lafontaine tritt vor der spd-fraktion der volkskammer auf
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„Ich bin nicht hierhergekommen, um Versprechungen zu machen“, dämpfte der SPD -Kanzlerkandidat bei seinem ersten Besuch der SPD-Fraktion in der DDR-Volkskammer die Erwartungen. Die Parlamentarier sollten ihren Kandidaten einmal, so hatte DDR-Parteichef Thierse den Besuch des Gastes erläutert, nicht nur aus dem Fernsehen kennenlernen.

Lafontaine lobte demonstrativ den Kanzler und dessen erfolgreichen Besuch in der Sowjetunion: Deutschland sei „der staatlichen Einheit immer näher gekommen“, wertete Lafontaine. Er begrüße „ohne Einschränkung“ die Ergebnisse von Kohls Gorbatschow-Besuch und auch die Festlegung der Bundeswehrstärke auf 370.000 Mann. Allerdings sei die Einheit nicht nur staatliche Einheit. Er sei nach Ostberlin gekommen, meinte der Kanzlerkandidat, um sich über die Situation im Lande nach der Einführung der D-Mark zu informieren. Die wirkliche Einheit sei die der Lebensverhältnisse.

Lafontaine hatte am Vormittag Bauarbeiter auf dem Alexanderplatz besucht und vor den dort versammelten Journalisten versichert, er werde deren Sorgen und Nöte in die Verhandlungen um den zweiten Staatsvertrag mit einbringen. Alle begonnenen Bauprojekte müßten vollendet werden, DDR-Bürger müßten ein Vorkaufsrecht für ihre Wohnungen haben.

Lafontaine wollte die sozialen Probleme in der DDR allerdings nicht auf seine Kritik an der schnellen Währungsunion beziehen. „Niemand hat gesagt, das ist die Folge der Politik der Bundesregierung“, schwächte er seine frühere Position ab. In ihrem Entwurf für einen zweiten Staatsvertrag hat die Bundes-SPD die Fortgeltung der spezifischen Sozialgesetzgebung der DDR, also unterschiedliche Beträge für Sockelbeträge der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe gefordert. Eine Angleichung der sozialen Mindestniveaus könne die SPD nur fordern, so Lafontaine, wenn „dies finanzierbar ist“. Klaus Wolschner, 18. 7. 1990