Sonnenflecken auf der nackten Haut

ZEICHNEN Der Dilettantismus und das analoge Zeichnen sind en vogue. Im Sommer öffnet das Georg-Kolbe-Museum im Berliner Westen seinen Garten zum Aktzeichnen. Los geht’s mit Konturen, Volumen, Schatten

Außer den Mücken hört man nur das Kratzen der Stifte auf dem Papier

VON ELISE GRATON

Kaum taucht Vessela Posner im Garten des Georg-Kolbe-Museums auf, dringt sie mitten in die Materie: „Die Skulptur hier könnten wir auch benutzen“, sagt die Künstlerin und Leiterin des Aktzeichenkurses im Museumsgarten. Schon durchquert die gebürtige Bulgarin mit blondem Lockenschopf den Kreis aus Plastikstühlen um ein flaches Podest und klammert sich an die blaue Metallsäule einer massiven Skulptur. „Ja. Das könnte eine interessante Situation ergeben – mit Modell“.

Noch ist es aber nicht da, das Modell. Die KursteilnehmerInnen, die sich tröpfchenweise in dem Garten einfinden, bereiten sich langsam vor. Zeichenbretter mit Klammern, weiße Papierblätter der Größe DIN-A3 und eine Auswahl an Bleistiften verschiedener Härte stehen frei zur Verfügung. Viele haben dennoch ihr eigenes Material dabei: Tusche, Kreide, Pinsel, ganz große XXL-Papierblätter, Buntstifte. „Ich habe dir einen Platz freigehalten“, ruft fröhlich eine Frau mit Zahnlücke einem älteren Herrn zu, der sich gerade dazugesellt. „Herrlich! Ich hole noch einen zweiten Stuhl für mein Brett.“

Der Kurs, den Vessela Posner seit fünf Jahren leitet, hat wohl einige StammzeichnerInnen. „Aber jedes Mal sehe ich auch ein paar neue Gesichter“, so Posner. Jens zum Beispiel, der vor 30 Jahren Kunst studierte, will es heute noch mal wissen. Oder Bettina, die gesteht, dass ihr Mann nicht mehr länger für sie als Modell posieren will. Und Claudia ist gerade erst nach Berlin gezogen. Ich stelle mich als blutigen Laien vor. Darauf lacht Claudia lauthals auf, was mir zu verstehen geben soll, ich sei wohl nicht die einzige.

Vessela Posner begrüßt nun die Runde: „Ich freue mich, dass wir endlich draußen im Freien zeichnen können.“ Außer im Juli und August findet ihr Kurs in den Räumen der Berlinischen Galerie in Kreuzberg statt, und am ersten Sonntag der sommerlichen Sonderreihe regnete es so stark, dass die Gruppe mit dem dunklen Untergeschoss des Museums vorliebnehmen musste.

Mit Stoppuhr im Anschlag erklärt Posner die Spielregeln: 15 Minuten dauern die Posen, die angewandte Technik ist jedem frei überlassen. Das nun eingetroffene Modell Naïma stellt sich auf das Podest und lässt die Hüllen fallen, während Posner die Lichtsituation kommentiert: Durch die Blätter der Buche fallen Sonnenflecken auf Naïmas nackte Haut. „Eine spannende Vorgabe!“

Der Countdown läuft. Nach der ersten Zeichenrunde fehlen bei mir noch Füße und Hände, nach der zweiten sind zumindest alle wichtigen Körperteile dran. Während der kurzen Pause tausche ich mich mit meiner Nachbarin über die vielen lästigen Mücken im Garten aus. Sie berichtet mir von ihrem Dilemma, sie könne sich zwischen den vielen Techniken nicht entscheiden. Ich schaue sie ein wenig ratlos an. „Du machst Konturzeichnung“, klärt sie mich auf. „Du zeichnest also nur die Umrisse des Körpers und lässt die Volumen außer Acht. Man könnte sich aber auch nur auf die Schatten oder die Energien konzentrieren“.

Schon geht es wieder los. Außer den Mücken hört man nur das Kratzen der Stifte. Ich betrachte Naïma und versuche mir ihre Energien vorzustellen. Sie sieht ein wenig aus wie die überseeischen Schönheiten, die Gauguin und Matisse in ihren Gemälden verewigten, und erinnert auch an Baudelaires Geliebte und Muse, die geheimnisvolle Jeanne Duval, die Édouard Manet malte. Ich erinnere mich, wie der amerikanische Comiczeichner Daniel Clowes in seiner Geschichte „Art School Confidential“ über die Aktmodelle lästert, die er als Student zeichnen musste – lauter „borstige Hippie-Mädchen und ihre freakigen Boyfriends mit Pudelfrisur“. Mit Naïma haben wir Glück; wobei das Nachzeichnen des Cloweschen Figurenkabinetts bestimmt genauso viel Spaß machen würde. Im Grunde war er wohl nur frustriert, weil seine Comics im kunstakademischen Umfeld nicht ernst genommen wurden. Hier hingegen nimmt sich keiner ernst.

Aktzeichenkurse finden schon lange nicht mehr im elitären, geschlossenen Kreis statt. Allein das massive Kursangebot in Berlin liefert den Beweis – der Dilettantismus (im besten Sinne des Wortes) und das analoge Zeichnen sind en vogue. An der Nacktheit des Modells stört sich keiner der vorbeischlendernden MuseumsbesucherInnen. Nur das ersehnte Posen Naïmas auf der Skulptur geht dann wohl doch zu weit und wird von der Museumsleitung umgehend unterbunden.

■ Bis 19. 8., jeden Sonntag 11 bis 13 Uhr, unter der großen Buche im Garten des Georg-Kolbe-Museums