berliner szenen: Dieses Attest ist praktisch wertlos
Als sie aus der Arztpraxis kommt, drückt sie den Umschlag an die Brust. Sie fühlt sich wie nach der Zeugnisvergabe: bestanden. In der Hand hält die Frau das Attest, das sie als Risikopatientin ausweist. Jetzt ist sie aufgestiegen in der Reihenfolge der zu impfenden Personen. Im Park sucht sie sich eine sonnige Ecke, um die Coronahotline anzurufen und einen Termin auszumachen.
Ab jetzt passiert, was schon viele beschrieben haben, sie hängt in der Warteschleife. Kurz bevor ihre gute Laune aufgebraucht ist, hört sie hinter sich eine vertraute Stimme und dreht sich um. Peinlich, das Vertrautheitsgefühl war sehr einseitig. Die Stimme gehört dem Schauspieler Joachim Meyerhoff. Immerhin hat sie kurz die Warteschleife vergessen, sie hat einfach ein Faible für Stimmen.
Schließlich ist sie an der Reihe und erfährt, dass sie alles richtig gemacht hat. Alles richtig, wiederholt der Mann von der Hotline. Allerdings nur theoretisch, praktisch sei das Attest wertlos. Die Anmeldebestimmungen seien inzwischen überarbeitet worden. Aber sie hat doch extra nachgeguckt in der Coronaverordnung. Und dann in der Praxis auf das Attest gewartet. Und Geld bezahlt. Zum dritten Mal hört sie, dass das richtig war, theoretisch, praktisch aber komplett überflüssig. Denn künftig werden alle Risikopatienten anhand der Abrechnungsdaten rausgefiltert und angeschrieben. Die Frau gibt noch nicht auf. Die Gesundheitssenatorin selbst habe doch die Sache mit den Attesten verkündet. „Tja, aber mit uns von der Hotline hat sie das nicht abgestimmt.“ In puncto Selbstbewusstsein kann er mithalten mit der Senatorin.
Die Anruferin will schon auflegen, da holt der Hotliner noch mal tief Luft: „Mal was anderes, Sie haben eine schöne Stimme.“ Kein Impftermin, aber für heute nimmt sie auch das Kompliment. Claudia Ingenhoven
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