berliner szenen: Volle Flaschen, nasse Hosen
Gestern. Ein großes Berliner Krankenhaus. Rettungsstelle. Samstagnacht. Ich bin Ärztin. Das ist so etwas Ähnliches wie Arzt. Ich sehe in einer Nacht mehr Menschen mit nasser Hose als eine Kindergärtnerin an einem schlechten Tag in der Kleinkindgruppe. Die Menschen, die sich bei mir in die Hose pinkeln, sind jedoch meist volljährig und betrunken. „Getränkeunfall“, sagen die Schwestern, „Alkoholintoxikation“ der Rettungsstellenbogen und „Augen auf bei der Berufswahl“ der Oberarzt. Vor mir sitzt ein Patient, dessen Hose vor Urin geradezu trieft, und trotz zweier Paar Handschuhe habe ich das Bedürfnis, sofort zu duschen. Stattdessen schicke ich sein Blut ins Labor.
Als ich zurückkomme, ist der Patient weg. Die Überwachungskamera zeigt, wie er in die Umkleide für das Pflegepersonal geht, seine vollgepinkelte Hose auszieht und dafür die von Pfleger Matthias mitnimmt. Eine solch zielsichere Aktion hätte ich ihm gar nicht zugetraut, bei drei Promille.
Entsprechend skeptisch betrachte ich den nächsten betrunkenen Patienten, aber dessen Hose scheint trocken. „Flasche, Flasche“, sagt er und deutet auf seinen Bauch. So schnell wie möglich reiche ich ihm die Urinflasche und verlasse das Zimmer. Als ich zurückkomme, ist die Flasche randvoll. Beeindruckt sehe ich ihn an, das sind mindestens 0,75 Liter. „Flasche, Flasche“, sagt er wieder. Irritiert gebe ich ihm eine neue. Kurze Zeit später überreicht er mir auch diese komplett gefüllt. „Flasche, Flasche“, sagt er dann noch einmal, und wieder sind es 300 ml. Ich bin fasziniert von seiner Blasenkapazität und Disziplin – und das bei vier Promille!
„Und mir klaut der mit drei Promille die Hose“, beschwert sich Pfleger Matthias, bevor er die Überwachungskamera ausschaltet und im Schlafanzug nach Hause geht.
Eva Mirasol
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