Pädophiles Netz auf der Anklagebank

Im französischen Angers geht ein Verfahren wegen sexueller Gewalt gegen Kinder und Zuhälterei zu Ende

PARIS taz ■ Seit gestern herrscht Schweigen in Angers. Viereinhalb Monate lang hat sich das Gericht mit sexueller Gewalt gegen Kinder und Zuhälterei befasst. Die jüngsten der 45 Opfer waren zur Tatzeit Babys, die ältesten 12 Jahre jung. Ihre Angreifer sind Eltern, Paten und Nachbarn.

Am Ende des größten Pädophilieprozesses der französischen Geschichte haben sich gestern Abend die neun Geschworenen, drei Richter und ihre Vertreter in eine rund um die Uhr durch Gendarmen von der Außenwelt abgeriegelte Kaserne zurückgezogen. Dort müssen sie über Schuld und Unschuld der 65 Angeklagten – darunter 26 Frauen – befinden. Sie müssen es „ohne Hass“ tun, so haben sie es bei Prozessbeginn im März geschworen. Erst wenn sie die ihnen gestellten 1.968 Fragen beantwortet haben, dürfen die Geschworenen und Richter ihre Isolation wieder verlassen.

In Angers, im Westen des Landes, hat die französische Justiz versucht, frühere Fehler zu vermeiden. Bei den Ermittlungen arbeiteten mehrere Untersuchungsrichter Hand in Hand. Ihre Arbeit war binnen drei Jahren abgeschlossen. Und im Prozess sorgte das Gericht für größtmögliche Klarheit. Irrtümer wie der von Outreau im Norden Frankreichs, wo Menschen jahrelang zu Unrecht als Pädophilieverdächtige hinter Gitter saßen, sollten vermieden werden (zu Outreau vgl. taz vom 1. 6. und 3. 7. 2004).

In Angers entstand – trotz der großen Zahl der Angeklagten, und obwohl die Aussagen der kleinen Opfer nur per Videoband in den Gerichtssaal kamen – ein deutliches Bild der Verbrechen. Es zeigt ein Konglomerat aus sexueller und körperlicher Gewalt, sozialem Elend und moralischer Verwahrlosung.

Das pädophile Netz wurde per Zufall entdeckt. Im November 2000 erstattete ein 16-jähriges Mädchen Anzeige wegen Vergewaltigung. Als Schuldige nannte das Mädchen den Freund ihrer Mutter und dessen Bruder – zwei bereits wegen Pädophilie vorbestrafte Männer. In Ermangelung weiterer Anzeigen brauchte die Polizei zwei Jahre, um die Spur zu weiteren Erwachsenen zu finden, die Kinder – oft ihre eigenen – vergewaltigten und gegen Entgelt prostituierten. Eine Mehrheit der Täter war als Kind selbst Opfer. Aus manchen Familien saßen mehrere Generationen von mutmaßlichen Tätern auf der Bank der Angeklagten.

Einer der Hauptangeklagten, Franck V., der seine drei Kinder vergewaltigt und prostituiert haben soll, wurde als Kind selbst von seinem Vater Philippe vergewaltigt. Der Senior wurde dafür zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Freilassung hat der Senior sich über seine drei Enkelkinder hergemacht. Er vergewaltigte sie im Beisein ihres Vaters – seines Sohnes.

Ein anderer Hauptangeklagter, Eric J., musste sich vor Gericht wegen 13 Vergewaltigungen von Minderjährigen, darunter seine beiden Kinder, und wegen Zuhälterei mit 35 Kindern verantworten. Ein Mitangeklagter sagte über Eric J., er habe ihm gegen wöchentliche Zahlungen von 1.000 bis 2.000 Franc „Kinder besorgt“. Eric J. bestreitet alles. „Das ist falsch“, sagte er zu den Beschuldigungen der Kinder. Und zu denen seiner drei Ex-Freundinnen, von denen zwei ebenfalls angeklagt sind.

Den Angeklagten in Angers drohen Gefängnisstrafen, die von einem halben Jahr bis zu 30 Jahren reichen. Die niedrigsten Strafen haben Angehörige zu erwarten – darunter Freundinnen und Mütter –, die nichts zum Schutz der Opfer unternommen haben, die höchsten drohen Zuhältern und Vergewaltigern. Das Urteil wird frühestens in einer Woche erwartet.

DOROTHEA HAHN