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GEHST DU AM SONNTAG WÄHLEN?„Äh, nein …“

VON HELMUT HÖGE

Mein Sohn ist arbeitslos. Und der Willy Brandt nimmt sich eine neue Frau. Denk mal drüber nach.“ Schwierig! Es fehlen ein paar Vermittlungsschritte bei dem, was mein schwäbischer Pensionswirt mir damit sagen wollte. Diese (Argumentations-)Lücke kann eine ganze Kluft sein – zwischen der Alltagswelt und der Sonntagswelt, wie sie uns beispielsweise am Wahltag zum Ankreuzen aufgedrängt wird.

Das fängt schon mit einem linken „Nichtwähler“ an, dem man bescheinigt, damit statistisch nur die Rechte zu stärken. Das will man natürlich nicht. Dann die ganzen Verwandlungen, die politische Einstellungen durchmachen auf dem Weg vom eigenen Zuhause in die ungemütliche Grundschule, wo sich das Wahllokal befindet: Erst will man kindlich bloß einen „sympathischen Kandidaten“ wählen, am Ende wählt man aber doch wie ein Erwachsener eine Partei mit realistischen Siegeschancen.

Parteiendemokratie ist Konsumpolitik. Bestätigt wird das dieser Tage von den warenförmigen Wahrscheinlichkeitsberechnungen in den bürgerlichen Medien: „Wen wählen Sie?“, fragt das Zeit-Magazin bekannte Leute aus Funk und Fernsehen. Andere Magazine fragen: „Wer soll Kanzler werden?“, und analysieren die Wahlslogans oder kritisieren die dazugehörigen Eyecatcher auf den Plakaten – Jeansärsche, Afrikanerpopos und Hängetitten. Mich fragte die Berlinredaktion der taz: „Wählst du?“ „Äh, nein“, stammelte ich und begann sogleich, das zu begründen, wurde jedoch von den Redakteuren unterbrochen: „Schreib es auf!“

Gegenteil von Wahlkampf

Also: Politisch aktiv zu sein oder zu werden ist für mich das Gegenteil von Parteiarbeit, Wahlkampf und Wählen. Kürzlich rezensierte ich für die Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung ein Buch von Hunter S. Thompson über den US-Wahlkampf 1972, bei dem McGovern gegen Nixon verlor. Der Rolling-Stone-Redakteur Thompson war auf McGoverns Seite und dem ging es natürlich darum, eine Mehrheit zu gewinnen. Das bedeutete, dass er sich morgens vor Studentinnen als Feminist gerierte, mittags vor Farmern als halber Rassist, abends vor einem Supermarkt gegenüber Arbeitern als heimlicher „Sozialist“ und nachts in der Hotelsuite gegenüber seinen reichen Geldgebern als Neoliberaler.

So wie es ein großer Fehler des SDS und der Außerparlamentarischen Opposition war, sich partout als Partei zu re-formieren, um als „Grüne“ in Wahlkämpfen erfolgreich zu sein, ließ sich auch Jerry Rubin, ein amerikanischer „Führer“ der aus der Friedens- und Hippiebewegung entstandenen „Youth International Party (Yippies), als Kandidat aufstellen. Monatelang war er mit Wahlkampf beschäftigt. Hinterher meinte er reumütig, dass er sich dabei in ein absolutes Arschloch verwandelt hätte.

High für Wahljunkies

Hunter S. Thompson hatte sich, bevor er als „Wahljunkie“ zum McGovern-Tross stieß, ebenfalls als Kandidat in seiner Heimatstadt Aspen, Colorado, aufstellen lassen – für das Amt des Sheriffs. Obwohl seine lokale „Freak Power“-Kampagne dabei vom republikanischen Kandidaten aus dem Feld geschlagen wurde, verschaffte ihm der Wahlkampf doch ein „High“, das weit über „alle“ bisher von ihm „genommenen Drogen hinausging“. Ein ähnliches „High“ erlebte er dann noch einmal in dem Wahlkampf von McGovern, weil er sich mit ihm „identifizierte“, wie er schrieb, obwohl der Senator Hunter S. Thompsons „3-A-Kampagne“ – „Acid“ (Legalisierung von Drogen), „Amnestie“ (von Deserteuren) und „Abtreibung“ – ablehnte, um die „Normalwähler“ nicht abzuschrecken.

Das ist der Punkt: Die APO war nach ihrer Transformation in die grüne Partei äußerst erfolgreich – aber das hatte nichts mehr mit ihren ursprünglichen Ideen zu tun, im Gegenteil, sondern betraf bloß einige Personen.

Aber um es kurz zu machen: Dieses ganze „Demokratie“-Spiel ist ein würde- und charakterloses Spektakel für und von analphabetisierten Vegetables.

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