american pie
: Lückenfüller in Gelb

Das Gelbe Trikot hat es nicht leicht in New York. Der amerikanische Sportkanal OLN hat an jeder Ecke des Times Square zwei Jugendliche im Tour-Siegerhemd postiert und sie mit Schildern ausgestattet, doch die vorbeihastenden Büroangestellten wenden ihnen nur selten ihre zielgerichteten Blicke zu. Hier, wo das Herz New Yorks im Tempo eines Radprofis auf der Zielgeraden schlägt, ist der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Passanten erdrückend. Die Börsenkurse flimmern über ein Lichterband am Nasdaq-Wolkenkratzer, darunter vermeldet die Nachrichtenagentur Reuters wieder einmal einen Selbstmordanschlag in Bagdad. Ein Haus weiter zieht eine 20 Meter hohe Giraffe die Blicke auf ein Spielzeugkaufhaus. Die Flugzettel, mit denen die gelb gewandeten Aushilfen für die Live-Übertragung der heutigen Etappe hier am Times Square werben, müssen sich gegen kostenlose Pizzastücke einer Fast-Food-Kette und schreiende Zeitungsjungen durchsetzen.

So versammeln sich wenig später gerade einmal ein paar Dutzend Interessenten auf der Verkehrsinsel zwischen Broadway und siebter Avenue, um Lance Armstrongs Jagd nach seinem siebten Sieg live aus den Alpen zu verfolgen. Die meisten davon sind Touristen, New Yorker haben keine Zeit, am helllichten Tag herumzustehen und fernzusehen. „Davon, dass ich anderen Leuten beim Radfahren zuschaue, werde ich auch nicht fitter“, wimmelt etwa ein Mann im Anzug die OLN-Leute ab.

Wirklich enthusiastisch und sachkundig ist nur ein kleines Grüppchen, das aus Colorado zu Besuch ist. Ihre austrainierten Figuren und ihre braune Gesichtsfarbe verrät sie als Radfahrer. „Wir haben im Hotel kein Kabelfernsehen“, sagt Randy, der sich ganz unpatriotisch über die Attacke von Alexander Winokourow am Galibier freut. „Wir haben ganz New York nach einem Ort abgesucht, wo wir die Tour sehen können“, freut er sich, dass wenigstens am Times Square die Königsetappe gezeigt wird.

Nicht alle sind so begeistert wie Randy und seine Freunde. Während es anfängt zu nieseln, hält ein Radkurier an und stellt sich an der Rekrutierungsstation der Armee mitten auf dem Times Square unter und betrachtet wenig beeindruckt, wie Winokourow und Botero über die Passhöhe stürmen: „Das sind Profis, klar, aber wir sind auch Profis“, meint der blonde Kerl, der sich Bronx Johnny nennt, missmutig. „Aber nur die kriegen die ganze Kohle und den ganzen Ruhm.“

Ein paar Meter weiter bricht unter den Schaulustigen plötzlich Jubel aus. Der Grund ist zunächst nicht ersichtlich, es hat keine Attacke gegeben, noch ist sonst etwas Spektakuläres passiert. Als erneut Kreischen ertönt und Hände in die Luft fliegen, wird deutlich, was passiert ist – die TV-Kamera hat direkt auf die eng zusammengerückte Gruppe gehalten und der OLN-Regisseur Anweisung zum Enthusiasmus gegeben. Kurz darauf kann man sich selbst auf der Leinwand dabei zusehen, wie man seinen Freunden und Verwandten in ganz Amerika zuwinkt. „Das reicht, gehen wir“, sagt danach ein junger Mann zu seinem Begleiter und hastet davon.

Am Abend, in der Sports-Bar Blondie’s im Tiefparterre eines Gründerzeitbaus auf der vornehmen Upper West Side, versammelt sich unterdessen ein etwas kundigeres und interessierteres Publikum, um die Aufzeichnung des Tages zu sehen. Der Literaturprofessor Kevin etwa, der sich sein Studium als Radkurier verdient hat, ist nach langen Streifzügen durch das New Yorker Nachtleben hier gelandet: „Ich war in allen Bars, Manhattan rauf und runter, und habe überall nur Achselzucken geerntet, als ich nach der Tour gefragt habe. Bis ich Blondie’s gefunden habe.“

Bei Blondie’s im Hinterzimmer trifft sich während der Tour der New Yorker Fahrradklub, um die Tageszusammenfassungen am Abend zu schauen – und das hat sich unter Fans herumgesprochen. Heute läuft die Etappe sogar vorne, auf den sechs Bildschirmen über der Theke: „Gibt heute kein anderes Spiel sonst“, sagt die Barkeeperin entschuldigend. Doch nicht einmal das Baseballteam, das nach einem Spiel im Central Park hier eingekehrt ist, ist böse. Nach dem dritten Bier wird über Abfahrtsgeschwindigkeiten und leichte Räder philosophiert und was die Radfahrer doch für tolle Sportler sind. Es scheint, als hätte Radsport in Amerika doch eine Chance. Zumindest dann, wenn sonst nichts läuft. SEBASTIAN MOLL