„Der Bundespräsident geht ein Risiko ein“

Es ist nur schwer zu erkennen, dass Kanzler Schröder nicht mehr das Vertrauen der SPD-Fraktion im Bundestag genießt – daher steht die Entscheidung Köhlers auf Messers Schneide. Der Bundestag braucht das Recht auf Selbstauflösung

taz: Herr Klein, wie sollte der Bundespräsident entscheiden?

Hans Hugo Klein: Es gibt in diesem Falle mehrere richtige und eine falsche Entscheidung.

Wie bitte?

Falsch ist sie, wenn er sich für eine Auflösung des Bundestages entscheidet, obwohl die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Sind sie aber erfüllt, kann er sich aus politischen Erwägungen für oder gegen Neuwahlen aussprechen.

Stimmen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen?

Das ist die Gretchenfrage. Der Bundeskanzler hat am 1. Juli drei Gründe für die Auflösung genannt. Er will erstens vom Bürger ein neues Mandat für seine Politik, und zweitens wies er auf die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat hin. Diese beiden Gründe tragen aus meiner Sicht nicht. Tragfähig ist – möglicherweise – allein der dritte Grund, dass er nämlich das stetige Vertrauen der Mehrheit des Bundestages nicht mehr habe. Dass muss er plausibel machen.

Die Erklärung des Kanzlers am 1. Juli fanden Sie diesbezüglich „etwas dünn“ und es sei auch nur schwer zu erkennen, dass dem Kanzler das Vertrauen der Regierungsfraktionen abhanden gekommen sei. Demnach kann es Neuwahlen nicht geben …

Wie gesagt, es ist nur schwer zu erkennen, dass er kein Vertrauen hat. Aber wenn er jetzt, wie ich lese, Äußerungen einzelner Abgeordneter zur Begründung heranzieht, geht das an der Sache vorbei. Es ist das gute Recht der Abgeordneten, die Regierung zu kontrollieren und auch nicht immer einer Meinung mit ihr zu sein. Das reicht also nicht. Er muss plausibel machen, dass er grundsätzlich den Verlust der Kanzlermehrheit zu fürchten hat.

Was heißt grundsätzlich?

Ein hinreichender Grund wäre, wenn er mit einer Abspaltung rechnen müsste. Der Kanzler hat außerdem nicht gesagt, für welche konkreten politischen Projekte der Zukunft er glaubt das Vertrauen nicht mehr zu haben.

SPD-Parteichef Müntefering hat dem Kanzler nach dessen Erklärung im Namen der Fraktion das Vertrauen aller Fraktionsmitglieder ausgesprochen. Wird das der Bundespräsident gegen Schröder verwenden müssen?

Nein. Es war zwar nicht geschickt. Aber Müntefering hat möglicherweise weniger das politische Vertrauen als vielmehr das persönliche, menschliche Vertrauen gemeint. Das aber ist verfassungsrechtlich nicht von Belang.

Sie gehen davon aus, dass sowohl der Bundespräsident als auch später das Verfassungsgericht Neuwahlen ermöglichen. Warum?

Die Entscheidung steht noch immer auf des Messers Schneide. Der Bundespräsident geht, wenn er bejaht, durchaus das Risiko ein, vom Verfassungsgericht korrigiert zu werden. Aber die Verfassungsrichter haben 1983 ihre eigene Entscheidungskompetenz weit zurückgenommen.

... indem sie dem Kanzler einen eigenen Beurteilungsspielraum zubilligten.

Ja. Und das Gericht wird bei seiner Entscheidung bedenken, dass eine gegenteilige Entscheidung die drei Verfassungsorgane Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundestag erheblich beschädigen könnte.

Ist der eigene Beurteilungsspielraum ein Freibrief für den Kanzler, die Vertrauensfrage nach Gutdünken anzuwenden?

Nein, aber die Frage nach dem politischen Vertrauen lässt sich nicht mathematisch beantworten. Da spielt die subjektive Einschätzung des Kanzlers eine außerordentliche Rolle. Sie darf nur nicht nachgewiesenermaßen falsch sein. Und wie gesagt: Allein das Ziel, Neuwahlen zu erreichen, ist nicht genug. Das Parlament hat nun mal kein Selbstauflösungsrecht.

Wäre das sinnvoll?

Nach den aktuellen und den Erfahrungen von 1983 sollte man das ernsthaft in Erwägung ziehen, vorausgesetzt, dass die Mehrheit dafür sehr hoch angesetzt sein müsste; zwei Drittel wenigstens, besser wären drei Viertel. Die vermeintliche Hintertür über die Vertrauensfrage müsste dann geschlossen werden. Beides nebeneinander geht nicht.

Der Kanzler hat bei Ihnen an der Uni Göttingen Staatsrecht gelernt.

… das hat er mal gesagt.

Hat er denn nicht?

Ich kann mich nicht erinnern, ihn in meinen Vorlesungen gesehen zu haben. Aber wenn er es sagt, war er sicher da.

Wie auch immer: Er ist in einer der wichtigsten Fragen des Staatsrechts zum Akteur geworden. Hat er sich als guter Schüler erwiesen?

Als Herr Schröder an unserer Universität studierte, das war in den frühen Siebzigerjahren, da hat unter den Staatsrechtlern an diese Form der Selbstauflösung des Bundestages niemand gedacht. Auch die Fantasie von Verfassungsjuristen ist etwas begrenzt.

INTERVIEW: THORSTEN DENKLER