Wahnsinn mit Methode

PERFORMANCE Was, wenn das Ende der Geschichte selbst Geschichte ist? Damit beschäftigt sich Jan Fabre beim Impulstanz Festival

Das Nachspielen der Wirklichkeit, „wie sie ist“, war dem Theater der 80er noch Wahrheitskriterium

VON UWE MATTHEISS

Zuerst einmal zeigt das Ensemble dem Publikum die kalte Schulter. In schwarzen Hosen und weißen Hemden bildet es eine uniforme Kette in der Tiefe des Burgtheaterbühnenraums. Hin und wieder ein Wechsel vom Standbein zum Spielbein, Einzelne lösen sich im Rückwärtsgang nach vorne zur Rampe hin, würdigen aber das Auditorium noch immer keines Blicks. Dabei recken sie gelegentlich die Köpfe, als gebe es auf der Rückwand flüchtig etwas zu sehen.

Jahreszahlen aus dem 19. und 20. Jahrhundert werden aufgerufen, vereinzelt, dann immer regelmäßiger. Nach einiger Zeit ist die Reihe wieder vollständig, diesmal im vorderen Bühnenraum, und klatscht Beifall, der aus dem Off zu tosendem Applaus ergänzt wird.

Bis zur Erschöpfung

Später werden sie sich überflüssiger Oberbekleidung entledigt haben und – diesmal dem Publikum zugewandt – auf der Stelle laufen, dabei Jahreszahlen, Orte und Stücktitel wichtiger Uraufführungen der neueren Theatergeschichte skandieren, immer wieder bis zur realen Erschöpfung. Das wirkt ein wenig wie „We Didn’t Start the Fire“ von Billy Joel für Brancheninsider.

Jan Fabres Aufzählung von Theatermemorabilitäten ist aber früher dran. Wir schreiben das Jahr 1984, der 25-jährige bildende Künstler Jan Fabre reflektiert seinen gerade erlebten Durchbruch auf der Bühne. Zwar hat auch er das Feuer nicht entzündet, aber er sieht sich als den letzten in einer Reihe von Fackelträgern, der das Feuer in der olympischen Schale anzünden darf, als Vollender der Theatermoderne wie als ihr Überwinder.

Der tosende Beifall im Stück gilt Jan Fabres vorangegangener Arbeit „This is theatre like it was expected and foreseen“ von 1982. Danach sollte Theater nicht mehr das sein, was es vorher war.

Spielen der Wirklichkeit

Zwei Jahreszahlen erhalten in der Performance eine besondere Bedeutung. Ein junger Mann auf der Bühne brüllt in mehreren Sprachen immer wieder: „1876?“ Eine junge Frau versucht mit allerlei Finten, an ihm vorbei auf die Bühne zu kommen. Die Sache eskaliert, und was, sorgfältig durchchoreografiert, keinen Schaden verursacht, sieht immer mehr aus wie eine ordinäre Schlägerei mit einem hässlichen Macht- und Kraftgefälle zwischen Mann und Frau. Nach der korrekten Antwort „Der Ring des Nibelungen“ darf sie dann passieren. Das virtuose Nachspielen einer schlechten Wirklichkeit, „wie sie ist“, schien dem Theater der 80er Jahre noch Wahrheitskriterium zu sein.

Dieselbe Performerin legt sich nach viereinhalb Stunden nackt über das Knie eines Kollegen, um auf die Frage „1982?“ Schläge auf das Hinterteil zu empfangen, bis sie die erwartete Antwort preisgibt. Was wohl nichts anderes heißen will, als dass auch symbolische Geltung in der bürgerlichen Kultur Ausdruck ursprünglicher Machtverhältnisse ist.

Fabre schreibt den eigenen Anspruch im Kanon bürgerlicher Kultur, den er doch zugleich sprengen wollte, wie ein arschpaukender Studienrat auf dem Frauenleib ein. Was bleibt vom Theater am vorgestellten Ende seiner Geschichte, wenn alle Motive, Formen und Gedankeninhalte der letzten zweieinhalbtausend Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Neuzeit gleichermaßen zuhanden und zitierbar werden?

„The Power of Theatrical Madness“ erscheint in der Rücksicht als eine einzige große Enzyklopädie, die, statt einem Text zu folgen, eine breite Textur von Verweisen auslegt. Die Kritik des Theaters zielt darin auf seine Wirkung als Narrations- und Illusionsmaschine. Die erzählte und die erlebte Zeit sind deckungsgleich.

„This is theatre like it is expected and foreseen“, wenige Tage später wiederaufgeführt im Wiener Museumsquartier, ist eine Achtstundenschicht mit repetitiven Theaterhandlungen, die in der musikalischen Anordnung des Konkreten einen Sog entwickelt, der die Beschwerlichkeiten auf beiden Seiten der Rampe in Schönheit überführt. Der Glaube an die Macht seiner Bilder und die Authentizität des Körpers bleibt im Theater noch unberührt. Diese Untersuchung stand in den 80er Jahren noch bevor. Sie wurde weniger im Theater als im Tanz geleistet. Jan Fabre hatte später seinen Anteil daran.

Neuinszenierung des Alten

Eine „Neuinszenierung“ der alten Texturen könnte stillschweigend alle Anachronismen beseitigen und politisch wie ästhetisch auf einen momentanen Common Sense upgraden. Jan Fabre ist jedoch Katholik genug, um auch seine Sünden wichtig zu nehmen. In Wien, in der Zusammenarbeit mit dem Impulstanz Festival, entscheidet er sich für eine buchstäbliche Rekonstruktion der alten Arbeiten, für eine Art von „Werktreue“, von der er weiß, dass es sie nicht geben kann.

Die Archäologie am eigenen Werkkörper liefert jedoch ein interessantes Rezeptionsexperiment. Die Wahrnehmung der Zuschauer selbst kann sich darin als geschichtlich geworden begreifen. Das Bewusstsein, das sich grundsätzlich für aufgeklärt hält, weil es das, was es nicht weiß, naturgemäß noch nicht kennt, erkennt seine eigenen Defizite im Spiegel der Vergangenheit.

Es ist doch ausgesprochen freundlich, wenn ein Tanzfestival dem Theater beim Nachdenken hilft.