die woche in berlin
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Die Grünen haben nun auch offiziell Bettina Jarasch zur Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl 2021 gekürt – das wirft die Frage nach ihrem Führungsstil auf. Eine gute Frage ist auch die, ob das Alkoholverbot wirklich Sinn macht. Und die digital gefeierte Eröffnung des Humboldt Forums wirft noch viel mehr Fragen auf

Kapitänin oder eine, die Brücken baut?

Die Wahl zwischen Jarasch und Giffey ist auch eine Stilfrage

Wer regiert Berlin? Knapp zweieinhalb Millionen Menschen können im nächsten September darüber entscheiden, am selben Tag, an dem auch Bundestagswahl ist. Aus den lange bloß mutmaßlichen oder designierten Kandidaten sind inzwischen echte geworden – die Grünen wählten dabei vergangenen Samstag Bettina Jarasch zur Spitzenkandidatin.

Ihre Bewerbungsrede auf dem ersten rein digitalen Parteitag des Grünen-Landesverbands wirft aber nicht nur die Frage auf, wer regiert, sondern auch, welcher Regierungsstil sich durchsetzen wird. Denn Jaraschs Angebot unterscheidet sich klar von dem der Frau, die mutmaßlich ihre größte Konkurrenz im Rennen um den Topjob im Roten Rathaus ist: Franziska Giffey, bei der SPD knapp zwei Wochen zuvor zur Spitzenkandidatin gewählt.

Die Frage ist, ob die besagten zweieinhalb Millionen eine Frau an der Spitze wollen, die wie Jarasch nicht sagt: Ich hab’s raus, folgt mir! Sondern stattdessen ankündigt, Bündnisse zu schließen, Brücken zu bauen und Mehrheiten zu finden. Eine Frau, die, auf fehlende Verwaltungserfahrung angesprochen, im taz-Interview sagte, es sei „alte Denke“ und ein überholtes Politikverständnis, dass sich Können, Macht und Einfluss immer nur von Ämtern ableite.

Oder will die Wählerschaft mehrheitlich eine, die sich merklich an einem Satz des verstorbenen früheren FDP-Chefs Guido Westerwelle orientiert: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt – und das bin ich.“

Wenn Jarasch von Bündnissen und Mehrheiten spricht, so sind das keine parlamentarischen, sondern solche mit gesellschaftlichen Interessengruppen, die nicht unbedingt grün sind, mit denen sie aber Schnittmengen sieht: Schnitzelliebhaber, die gegen Massentierhaltung sind; Autofahrer, die eine Verkehrswende unterstützen; private Vermieter, die nicht den letzten Cent rauszupressen versuchen.

Das Ganze ist ein Experiment. Wird sich die Wählerschaft für ein großes Partizipationsprogramm begeistern, mit Teilhabe und Experten, die eine verwaltungsunerfahrene Regierungschefin beraten, deren Zeiten als erfolgreiche Landesvorsitzende heute vier Jahre zurückliegen? Oder werden sie dem folgen, was für Jarasch „alte Denke“ ist? Nämlich darauf zu setzen, dass eine durchsetzungsstarke Ex-Bezirksbürgermeisterin und Bundesministerin mit ihrem Stil als „Macherin“ auch auf Landesebene Erfolg hat.

„Man muss Führung auch zulassen“, hat auf dem SPD-Parteitag Giffeys Vizechef Andreas Geisel von seinen Genossen verlangt, als dort einige Giffey gleich schon wieder Knüppel zwischen die Beine warfen. Die Frage ist bloß, welche Führung und wie viel.

Brückenbauerin oder Kapitänin – die Entscheidung fällt am 26. September.

Stefan Alberti

Mit klarem Kopf durch die Feiertage

Lockdown: Kein Glühwein, kein Wegebier ist mehr erlaubt

Statt Wegbier heißt es nun Bier weg: So in etwa dürfte sich in naher Zukunft das Niveau der deutschen Wortkunst gestalten, wenn deren Pfleger beim Inspirationsspaziergang auf den gewohnten Schmierstoff verzichten müssen. Das Feuer unseres Geistes wird erlöschen, die Wurzel unserer Kultur verdorren, die Quelle deutschen Seins versiegen.

Denn seit diesem Mittwoch ist der Konsum von Alkohol auf öffentlichem Straßenland verboten. Das gilt für den Glühwein am Stand, das Bier in der Hand, den Schnaps unter der Brücke. Angeblich wegen Corona, aber das kennt man ja: Was die da oben erst mal eingeführt haben, nehmen sie nie wieder zurück – davor warnte bereits der blinde Seher ­Giorgio Agamben. Sie werden uns knechten, und dann werden sie uns töten.

Was sollen wir denn jetzt tun? Wie sollen wir zu Fuß eine Strecke von A nach B zurücklegen ohne Alkohol? Hätten sie uns das Atmen verboten, wäre es nicht halb so schlimm gewesen. Das ist nicht mehr mein Deutschland.

Doch denken wir einmal nicht nur an uns selbst. Denn besonders schlimm wird es auch für die Amerikaner sein. Touristen sind zurzeit kaum hier, aber dafür weiter jede Menge Expats. Also Halbtouristen, die arbeiten oder so tun, als ob, oder auch einfach nur ein paar Monate hier abhängen. Gerade die sieht man zu wirklich jeder Tageszeit mit Billigbieren in der Hand flanieren. Das kann zwar weder schmecken noch einer konstruktiven Tagesgestaltung dienen, doch ihre Mienen verraten: Ich tue das, weil ich es kann. In der Heimat hätte ihnen die Polizei dafür in den Rücken geschossen.

Jetzt aber können sie es nicht mehr. Das Erlebnis stand für jeden Besucher auf der Prioritätenliste ganz oben neben einem Joyriding auf der Autobahn: Bier trinken auf der Straße, meine Fresse! Was fast in der ganzen Welt verboten ist, war hier bis eben noch erlaubt, der größte Stolz der deutschen Seele, fast noch vor dem heiligen Recht zum Totrasen mit zwohundert Sachen.

Und nun? Was will man denn jetzt noch hier?, fragen sich zu Recht die Fremden. Mit dem Verbot hat dieses ansonsten ja überaus langweilige Land seinen Reiz komplett verloren. Über Nacht werden Wohnungen aufgelöst und Rückflüge gebucht. Dass man kein Mobilnetz hat oder nicht mit Karte bezahlen kann, wirkt auf Ausländer zwar ebenfalls exotisch, ist jedoch kein echtes Alleinstellungsmerkmal, denn das wäre im Himalaja auch nicht anders. Vor allem aber ist das alles kein Ersatz für ein gepflegtes Fußpils.

An Silvester wird dann sogar der schlichte Verkauf von Alkohol zwischen 14 Uhr und 6 Uhr des Folgetags untersagt sein. So kann man mal in aller Ruhe und mit klarem Kopf darüber nachdenken, was dieses für ein Scheißjahr war.

Uli Hannemann

Kritiker umarmen und erdrücken

Digitale Eröffnung des Humboldt Forums

In Sachen Kolonialismusdebatte fährt das Humboldt Forum schon länger eine geschickte Strategie. Kritik wird nicht einfach niedergemacht oder ignoriert, sondern als „Stimme der Anderen“ im Sinne zeitgenössisch hipper „Multiperspektivität“ einbezogen. So wirkt man offen und diskussionsfreudig, ohne praktische Konsequenzen, die womöglich schmerzhaft für einen selbst wären, ziehen zu müssen. Dieses Vorgehen war auch bei der digitalen Eröffnung am Mittwochabend zu bewundern.

So wurde etwa der Vorwurf, das rekonstruierte Preußenschloss sei Sinnbild des deutschen Kolonialismus, mittels Kunst am Bau ins Gebäude integriert: Eine schwarze, deckenhohe Stange im Rolltreppenhaus trägt eine schwarze Fahne, die halb in der Decke verschwindet. Im Eröffnungsvideo erklärt der Künstler Kang Sunkoo, seine „Statue of limitation“ erinnere an den deutschen Völkermord an den Herero und Nama. Der obere Teil dieser Fahne auf halbmast solle im kommenden Jahr auf dem Nachtigalplatz in Wedding aufgestellt werden – also mitten im Afrikanischen Viertel, einem anderen Relikt aus Deutschlands kolonialen Zeiten.

Auch die Kritik, viele der künftigen Ausstellungsstücke der „Weltkulturen“ seien koloniales Raubgut, war bei der Eröffnung vertreten. In einem eingeblendeten Video durfte die britische Künstlerin Priya Basil sagen, dass Deutschland das größte Kulturprojekt des 21. Jahrhunderts eröffne, „das bald zum Teil gefüllt sein wird mit unrechtmäßig erworbenen Stücken, dem Eigentum von Kulturen aus der ganzen Welt“.

Dass diese Feststellung, die in den vergangenen Jahren viele prominente und berufene Fürsprecher hatte, absehbar ohne Folgen bleibt, ließ schon das Eingangsstatement von Generalintendant Hartmut Dorgerloh erkennen. Der antwortete auf die Frage, was er zu der Diskussion der letzten Tage über die Forderung Nigerias nach Rückgabe der Benin-Bronzen sage: „Die Menschen werden uns die Bude einrennen.“ Was nichts anders heißt als: Einen Teufel werden wir zurückgeben, schon gar nicht unsere schönsten Stücke!

Überraschend ist das nicht, genau das ist die Politik der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) der letzten Jahrzehnte. Seit bald 40 Jahren fordert Nigeria seine geraubten Kunstschätze des alten Königreichs Benin zurück, daran hat diese Woche die Kunsthistorikerin ­Bénédicte ­Savoy erneut erinnert. Genauso lange mauert die SPK.

Auch wenn man sich heute gesprächsbereit zeigt, etwa im Rahmen des Benin Dialogue mit Nigeria, und „grundsätzlich“ und „im Einzelfall“ Rückgaben nicht ausschließt: Tatsächlich ist bis heute kein einziges von den rund 530 (!) Stücken aus dem historischen Benin zurückgegeben worden, die Berlin „besitzt“. Auch sonst lassen sich die Rückgaben von außereuropäischer Kunst und ethnologischen Objekten an zwei Händen abzählen. Ein Armutszeugnis nach mehr als zehn Jahren Diskussion übers Humboldt Forum.

Susanne Memarnia

So wirkt man offen und diskussions­freudig, ohne praktische Konsequenzen, die womöglich schmerzhaft für einen selbst wären, ziehen zu müssen

Susanne Memarnia über die Strategie des nun – digital – eröffneten Humboldt Forums in Sachen Kolonialismusdebatte