Wuchernde Moose

Mut zum Künstlichen: Dioramen – perspektivisch gedachte Durchscheinbildchen des 19. Jahrhunderts sind im Altonaer Museum zu sehen

Dieses Genre erfordert Mut zur Künstlichkeit. Furchtlosigkeit, wenn es um die Nachahmung äußerer Realitäten im Guckkastenbild geht. Und die Aufgabe fast jeder Natürlichkeit um des visuellen Effekts willen: Wie kleine Paradiesgärtchen, nicht weit entfernt vom Krippenspiel, wirken die derzeit im Altonaer Museum präsentierten Dioramen – jene im 19. Jahrhundert als Reiseandenken verkauften Guckkastenbildchen, die wesentlich in Schlesien und Böhmen hergestellt wurden und Landschaft und Architektur abbilden.

Dem biedermeierlichen Geschmack der Zeit folgen selbstverständlich Motive und Farben; Frauen in Reifröcken, adrett Betende und wild Jagende sind auf den Bildern zu sehen; soziale Probleme thematisierten diese Bilder traditionell nicht. Ersatzverdienst für die aufgrund der industriellen Revolution verarmten schlesischen Weber und Spinner bot das Andenken-Gewerbe, dessen Protagonisten sich oft regionaler Materialien bedienten: des für das Riesengebirge typischen Moses zum Beispiel und des berühmten schlesischen Glases.

Diorama bedeutet eigentlich „Durchscheinbild“ und wurde 1822 von Jacques Daguerre für besondere optische Effekte auf der Bühne ersonnen. Dreidimensional – mal mehr, mal weniger überzeugend, kommen die im Altonaer Museum präsentierten Bilder daher, wobei am gelungensten die papierenen wirken: Wie für die Puppenstube gemacht wirken fein ausgeschnittene Türen und ein überzeugend vorkragender Dachgarten, gar zu adrett die akkurat mit Laternchen durchsetzte Leipziger Marktszene.

Tiere finden sich fast nie auf diesen Bildern, und warum Moos – dominantes Element auf etlichen Landschafts-Dioramen – als so überzeugend galt, man kann es nur noch mutmaßen: Als Insignium der Ewigkeit galt das Material; heute lugt etwas leicht Bonsai-haftes aus diesen Bildern hervor. Romantisierende Motive prägen die meisten dieser rübezahl-artig überwucherten Landschaftsdarstellungen. Eine Preziose für Modellbau-Lieber dagegen – zeitgenössisches Modelleisenbahn-Zubehör lässt grüßen – wirkt Schloss Frauenberg an der Moldau, akkurat papieren konstruiert und Geduldsspiel für Hersteller und Betrachter.

Und dann wären da noch die Glasdioramen, die handwerklich am diffizilsten waren: In Dreidimensionalität suggerierenden Schichten auf- und voreinander geklebt und dazu mit winzigen Figürchen versehen, kommen sie daher; wenig überzeugend wirkt allerdings heute die perspektivische Verkürzung, die Tiefe suggerieren soll. Bizarr auch der als See gedachte Spiegel, der anderswo mitten ins Bild gesetzt wurde; ein einsames Boot schwimmt darauf.

Eine Kuriositätenschau also in der Tat, Zeugnis der beginnenden schlesischen Bäderkultur außerden. Und schließlich Ausweis eines eigenartigen Versuchs, Urlaub im Guckkasten mit nach Hause zu nehmen – in einer Ära, als das Foto als Erinnerungsträger noch nicht zur Verfügung stand. Petra Schellen

Dioramen – 3D-Schaubilder des 19. Jahrhunderts, Di–So 11–18 Uhr, Altonaer Museum; bis 18. 9.