Leben vor dem Putsch

Mitten hinein in die Streits und Auseinandersetzungen in Chile 1973: „Machuca, mein Freund“ läuft am Millerntor

In „Machuca“ kann sich niemand den Klassenverhältnissen entziehen

von Gaston Kirsche

„Den da kenn ich, das ist der Sohn der Frau, die bei uns zuhause die Wäsche macht.“ Mit dem Rücken zur Tafel stehen ein paar Jungs, ärmlich gekleidet. Vor ihnen sitzt in gepflegten Schuluniformen die Klasse einer der renommiertesten katholischen Privatschulen von Santiago de Chile. Hierher schickt die Elite ihre männlichen Sprösslinge. Selbstherrlich sitzen sie da, schüchtern stehen ihnen die anderen gegenüber. „Gut, dann kennt ihr euch ja schon,“ entgegnet Schulleiter Padre McEnroe (Ernesto Malbrán) dem Schüler aus gutem Hause. „Ihr seid nämlich ab jetzt Klassenkameraden.“

Von der Schulklasse aus entwickelt sich die Handlung von Andrés Woods Spielfilm Machuca, mein Freund, der jetzt im Original mit Untertiteln am Millerntor gezeigt wird. Hinter Gonzalo Infante (Matías Quer) sitzt fortan der ebenfalls elfjährige Pedro Machuca (Ariel Mateluna). Gonzalos Familie wohnt in einer Villa, man hat Personal und eine eigene Firma. Pedro und seine Leute leben in einer zusammengeflickten Wellblechhütte. Dem Beharren auf Privilegien seitens der Herrensöhnchen entgegen steht das Einfordern der kleinen Proleten nach Anerkennung. Gegen verbale Erniedrigung wird da schon mal die Faust eingesetzt.

Es ist der Frühling des Jahres 1973, in Chile regiert seit drei Jahren eine linke Volksfront, Präsident ist der Sozialist Salvador Allende. Staatliche Sozialprogramme wie die Einführung der kostenlosen Schulmilch und die Verstaatlichung des Kupferbergbaus ermuntern und bestärken die Mobilisierung der in Chile traditionell starken Arbeiter- und Landlosenbewegung. Schulleiter McEnroe greift diese Aufbruchstimmung auf und gibt Jungs aus den benachbarten Elendsvierteln die Chance auf Bildung.

Der Film führt mitten hinein in die Diskussionen, Streits und Auseinandersetzungen jener Tage. Pedro verkauft, zusammen mit seiner wenig älteren Nachbarin Silvana (Manuela Martelli) und deren Vater, auf Demonstrationen Fahnen – die der rechten Nationalen Front wie auch die roten Fahnen der Linken. Auch Gonzalo kommt mit, will dabei sein. Auf der rechten Demo hüpfen sie nur zum Schein mit, besonders Silvana ist äußerst unwillig dabei. Als die Unidad Popular dann auf den Straßen tanzt, ist Silvana ausgelassen beim Fahnenverkauf. Gonzalo ist beeindruckt von Silvana, er verliebt sich in sie. Eine der wenigen Längen des Films sind die Kussszenen, wenn sich Pedro, Silvana und Gonzalo zwei Dosen süße Kondensmilch von Mund zu Mund teilen.

Die Freundschaft der drei bleibt von der zunehmend aggressiveren rechten Oppositionspolitik nicht unberührt. Was in den meisten Filmen zum Militärputsch in Chile fehlt, hier ist es Thema: die Rücksichtslosigkeit, mit der Chiles Elite ihre Pfründe verteidigt wissen wollte. Pinochet ist dem nachgekommen. In Machuca geht es um das Leben vor dem Putsch. Die Sehnsüchte, das Begehren, das Aufbegehren und die Heftigkeit der Abwehr. Den Klassenverhältnissen kann sich in Machuca niemand entziehen, alle ProtagonistInnen profitieren oder kämpfen mit ihren Verstrickungen. Beeindruckend wird gezeigt, wie dies, und genauso die starke Politisierung, bis ins Leben von Kindern hineinwirkt. In der chilenischen Zeitung Las Ultimas Noticias hieß es anlässlich der Premiere: „Wenn es einen Film gibt, den man dieses Jahr nicht verpassen darf, ist es Machuca. Nie war das chilenische Kino so direkt und subtil zugleich, so melancholisch und brutal, so fröhlich und so schrecklich traurig.“

Am Schluss steht Gonzalo einsam auf dem Geröll am Fluss Mapocho, bei der Poblacion von Pedro und Silvana. Eine verrostete Dose liegt herum, in der einmal süße Kondensmilch war.

Sa, 23. 07., Millerntor-Stadion. Einlass 21 Uhr. Vorprogramm: La Kumbancha Soundsystem