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: Kein Faulpelz, nur freiberuflich

Seitdem ich gegen 6 Uhr wach werde, formiert sich mein Tag anders

Seit dem November-Lockdown sind meine Tage länger geworden. Ich stehe nämlich seit Neuestem früh auf. Wahrscheinlich einfach deshalb, weil ich auch früh ins Bett gehe. Neulich bin ich gegen ein Uhr nachts aus meinem dreistündigen Schlaf erwacht, weil ich von Wasserfällen träumte, die mir in den Mund fielen. Ich stand auf, lief in die Küche und trank dort ein Glas Wasser am Hoffenster. Der Hof war stockdunkel. Kein Licht schien hinter den beiden üblich erleuchteten Fenstern rechts oben im vierten und links unten im zweiten Stock. Interessant, dachte ich. Offenbar gehen viele Nachteulen jetzt früher schlafen.

Man muss dazu sagen, dass ich bis auf eben diese zwei Ausnahmen in einer Gegend von Frühaufstehenden lebe. Das fiel mir schon oft mit einem seltsam schlechten Gewissen auf, denn arbeite ich normalerweise gern bis 3 Uhr nachts und schlafe etwa bis 9 Uhr morgens, erwacht das Leben um mich herum bereits gegen halb 6 Uhr. Ab dann laufen in den Bädern die Radios und Duschen, Wasserkessel brodeln in den Küchen und blaue Fernsehlichter flackern aus den Wohnzimmern. Man hört Leute aus ihren geöffneten Fenstern husten oder sieht sie auf den Balkonen rauchen.

Etwas später werden vorn an der Straße erste Parklücken frei und ab halb 7 bilden sich Schlangen im Backshop oder Trampelpfade zur Bahn. Als meine Nachbarin O. und ich im Sommer mal früh, weil spät nach Hause kamen und sie meinem Blick zu einem der blau zuckenden Fenster folgte, sagte sie: „Frühstücksfernsehen. So beginnen manche Menschen ihren Tag.“ „Bin wohl eher der Typ für die Nachtsendungen“, antwortete ich, denn ehrlich gesagt hatte ich bis dahin noch nicht einmal gewusst, dass Frühstücksfernsehen existiert.

Ein anderer Tag-und-Nacht-Rhythmus um mich herum sorgte bei mir bisher für das Gefühl, mich manchmal ungefragt erklären zu müssen, um nicht wie ein Faulpelz zu wirken.

„Ich arbeite nachts“, rief ich einer Nachbarin etwas schrill entgegen, die netterweise, obwohl sie krank war, vor 10 Uhr ein Paket für mich angenommen hatte.

„Schichtdienst?“, fragte sie und ich sagte verlegen: „Nein, also ich bin Freiberuflerin.“ „Ach“, nickte sie, aber man sah ihr an, dass sie nicht verstand, warum man deswegen am helllichten Tag noch im Bett lag.

Unangenehm wurde es auch an dem Morgen, als vor unserem Haus ein Wasserrohr platzte und die freundlichen Männer der Berliner Wasserwerke gegen halb 9 Uhr bei mir klingelten. Das heißt, sie klingelten überall, aber um diese Zeit waren ja bereits alle außer Haus. Nur ich lag noch im Bett. Als ich schließlich verschlafen meine Tür öffnete, rief der Mann von den Wasserwerken: „Krank, noch jeschlafen oder wat?“ Ich krächzte der Einfachheit halber: „Krank.“ Er nickte. „Jute Besserung, schlafen Se sich jesund.“ Ich lächelte peinlich berührt.

Seitdem ich nun jeden Morgen gegen 6 Uhr von ganz allein wach werde und es im Bett nicht mehr aushalte, formiert sich mein Tag anders. Alles erscheint mir so viel produktiver. Manchmal sehe ich auf die Uhr, nachdem ich gefühlt schon ein ganzes Tagesprogramm absolviert habe, und stelle erstaunt fest, dass es erst 11 Uhr ist.

„Verrückt, das Gefühl, seit dem Lockdown so viel mehr vom Tag zu haben, zumal die Tage zurzeit ja winterlich geschrumpft scheinen“, sage ich zu meiner Nachbarin O. und füge triumphierend hinzu: „Rein theoretisch könnte ich jetzt sogar Frühstücksfernsehen gucken, hätte ich einen Fernseher.“

O. sieht mich an und grinst: „Ich glaub, das alles hat rein gar nichts mit dem Lockdown zu tun. Bald machst du noch ein Mittagsschläfchen und dann ist klar, dass es sich um Alters-Bettflucht handelt.“

Isobel Markus