berliner szenen
: Keine Wäsche, keine Bügel

Französischer Balkon – ein Balkon, der kaum zu betreten ist. Den Begriff habe ich gerade erst gelernt. Seit Jahren fällt mir so ein Gebilde am Haus gegenüber auf, noch nicht mal tief genug für einen Stuhl. Sein Geländer eignet sich allenfalls für einen Mini- Blumenkasten oder eine Satellitenschüssel. Das Wichtigste im konkreten Fall aber: in die Leibung kann man eine Wäscheleine spannen, die sogar durch einen Mauervorsprung überdacht ist.

Wann immer ich samstags hinübergucke, sehe ich zum Trocknen aufgehängte Oberteile: sechs bis sieben Drahtbügel mit ordentlich glatt gezogenen T-Shirts und Karohemden, dunkelblau, dunkelgrau, schwarz, vielleicht auch braun – farblich ähneln sie einander. Die Sachen fallen groß aus, mindestens XL. Den dazugehörigen Mann habe ich noch nie gesehen, wahrscheinlich wäscht er zu nachtschlafender Zeit.

Letzten Samstag, als ich das Fenster öffne und mein Blick schon fast intuitiv auf den Pseudobalkon gegenüber fällt, sehe ich – nichts. Keine Wäsche, keine Bügel, nur die dürftige Leine. Was ist passiert? Urlaub ist im Moment ja nicht sehr wahrscheinlich – der Mann muss krank sein. So krank, dass er nicht wäscht. Vielleicht liegt er im Krankenhaus, das wäre doch keine übertriebene Spekulation in diesen Tagen. Am Sonntag dann die Überraschung: Die Wäsche hängt. Sieben ähnlich-farbige Teile und zusätzlich, ganz außen, vielleicht in Größe S, ein leuchtend rost-rotes T-Shirt.

Der englische Begriff für den französischen Balkon, das habe ich inzwischen auch gelernt, erinnert an Shakespeares Julia. Romeo hört, wie sie am offenen Fenster sehnsuchtsvolle Selbstgespräche führt. Seine hinaufgerufenen Liebesschwüre siegen über ihre Skepsis, und beide verabreden die heimliche Hochzeit für den nächsten Tag. Daher: Juliet’s balcony.

Claudia Ingenhoven