DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Einfach sensationell

Die „Tour de France“ ist eine Massenbewegung mit Musik – zumindest für den Zuschauer am Fernseher

Seit zweieinhalb Wochen herrscht in Deutschland „Tour de France“-Fieber, und auch ich war immer „live“ dabei – ich verfolgte das Geschehen am Fernseher. Den Beginn einer Übertragung lasse ich aus, denn Fahrer bekommt man noch gar nicht zu Gesicht. Bei Live-Berichten in ARD und ZDF dauert das Vorprogramm meist 30 Minuten. Analysen und Rückblicke, wer, wann, in welchem Dorf geboren wurde und deshalb – vor sieben Jahren – einen Angriff bis zur Dorfmitte fahren durfte, solche Sachen stehen im Mittelpunkt.

Wenn die Fahrer endlich zu sehen sind, reichen mir die ersten 15 Minuten mit Ton. Von Interesse ist: Wie hat sich das Feld sortiert? Welches Team macht Tempo? Gibt es eine Ausreißergruppe und wer ist dabei? Dann schalte ich den Ton ab. Mit einem Auge beobachte ich dann das Fahrerfeld, diverse Ausreißergruppen, Kirchen, Schlösser, Grafiken von Alpenanstiegen usw., und mit dem anderen Auge schlafe ich. Damit komme ich auf jeweils eine Stunde Mittagsschlaf pro Auge. In diesem Jahr kam die Tour sogar nach Karlsruhe und Pforzheim.

Zu meinem Bedauern hatte ich ausgerechnet an diesem Wochenende Termine. Das war hart – nicht nur wegen dem entfallenen Mittagsschlaf – sondern wegen der Vorstellung, ich könnte was verpassen. Aber Gott sei Dank hockte ich lange genug im Auto. Im Radio gab es „Tour Spezial“ – live. Die Reporter schilderten wortgewaltig die Stimmung am Straßenrand, „es war atemberaubend als wir über den Rhein auf die deutsche Seite kamen, so viele Menschen – Millionen!! – einfach sensationell“. Sie erzählten von Feten und Festen am Straßenrand. Dann ging es zurück ins Studio – Musik.

Bei der nächsten Live-Schaltung waren laut Reporter „Millionen von Menschen gekommen“, die Stimmung: „sensationell“. Wie sich die deutschen Fahrer gefühlt hätten, wurde fast philosophisch gefragt, angesichts dieser Zuschauermassen, dieser Stimmung. Wieder ging es zurück ins Studio – Musik.

Die dritte Schaltung zur Tour kam aus Karlsruhe, dem Zielort. Die Fahrer waren auf dem Weg dorthin, aber noch nicht da. Auch in Karlsruhe warteten „Millionen von Menschen“. Die Stimmung – natürlich – „sensationell“. Besucher wurden befragt, und die fanden alles „ganz toll“ in Karlsruhe. Zurück ins Studio – Musik.

Der vierte Live-Bericht kam aus Baden-Baden. Dort stand die Ehefrau eines Radprofis. Wie sie sich fühlt, wenn er bald vorbeifährt? Ob sie sich sehen würden bei dieser dreiwöchigen Tour? Dann, ganz beiläufig, kam die Meldung: „Eine siebenköpfige Ausreißergruppe hat sich gebildet. Ein Deutscher ist dabei“, zurück ins Studio – Musik.

Mehr war nicht zu erfahren, es kam der Werbeblock, die Nachrichten, das Wetter, die Verkehrsinfo und wieder – Musik.

Eine siebenköpfige Ausreißergruppe und ein Deutscher? In großer Erwartung wartete ich auf die nächsten Tour-Nachrichten. Es vergingen allerdings noch zwei Live-Schaltungen mit wichtigen Nachrichten wie „Millionen von Menschen am Streckenrand“ und „sensationelle Stimmung“, bis ich bei der dritten Schaltung die Info bekam, „in der Ausreißergruppe war der deutsche Fabian Wegmann vom Team Gerolsteiner“. Wer noch oder ob es diese Gruppe überhaupt noch gab – immerhin waren sie schon vor über einer Stunde ausgerissen – war dem Bericht nicht zu entnehmen. Hatte sich das Feld vielleicht längst wieder formiert?

Aber angesichts der faktenreichen Berichterstattung waren das nur fehlende Randerscheinungen. Was blieb, waren „Millionen von Menschen“ am Straßenrand und eine „sensationelle“ Stimmung. Bevor der Reporter wieder zurück ins Studio gab, sagte er noch: „Radfahren ist zur Massenbewegung geworden.“ Alles hat gestimmt, nur dieser Satz ging an den Fakten vorbei.

Zwei Tage später kam unter der Rubrik „kurz notiert“ die Nachricht, dass beim Berlin-Marathon keine Anmeldung mehr möglich ist. Über 40.000 Läuferinnen und Läufer werden am Start sein. Liebe Reporter vom Radio: Laufen, das ist eine Massenbewegung.

Fragen zum Radfahren? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH