Verwirren und verirren

OFFENER KUNSTRAUM Unter dem Motto „Entweder. Oder.“ will sich das dritte Dockville-Kunstcamp mit dem Setzen und Auflösen von Kategorien auseinandersetzen. Und Möglichkeiten zur Entdeckung des Dazwischen bieten

Vielleicht tanzt irgendwann eine ganze Seite „Krieg & Frieden“ nebeneinander

VON ROBERT MATTHIES

Bewusst in die Irre führen soll hier schon das Motto. Sich für eine der beiden Seiten des „Entweder. Oder.“, um das das dritte Kunstcamp im Vorfeld des Dockville-Festival unablässig zu kreisen gedenkt, werden sich weder die über 50 beteiligten Künstler_innen, die hier mehrere Wochen lang gemeinsam leben und arbeiten, noch die Besucher_innen, die ab heute für zweimal vier Tage eingeladen sind, Teil des temporären künstlerischen Prozesses auf dem Festivalgelände am Reiherstieg-Hauptdeich in Wilhelmsburg zu werden, entscheiden können.

Denn das Entweder-Oder soll vor allem als Weder-Noch, als Eröffnung eines Spannungsfeldes erfahrbar werden, in dem die Möglichkeiten des Dazwischen und Vielleicht zu entdecken sind. Das Dilemma des Findens und Auflösens von Kategorien wollen die Künstlerischen Leiterinnen Dorothee Halbrock, Laura Raber und Susanne Schick, unterstützt von Anne Kersting, im letzten Jahr Kuratorin des Live-Art-Festivals auf Kampnagel, der Kulturwissenschaftlerin Heike Lüken und dem Kurator Stephan Köhler gemeinsam mit ihren Gästen zum Thema machen.

Denn für irgendetwas werden sie sich dann doch zumindest für einen flüchtigen Zeitraum entscheiden müssen. Das Hamburger Künstler_innenkollektiv Krautzungen etwa hat sich entschlossen, Tolstois monumentalen Roman „Krieg & Frieden“ auf eine eigenwillige Art lebendig – oder besser leibhaftig – werden zu lassen. An einer Grenzstation kann man sich eine „Sinneinheit“ des Romans nebst Seitenangabe mit hautverträglichem Stift auf ein Körperteil seiner oder ihrer Wahl schreiben und sich anschließend fotografieren lassen. Im Internet treffen sich Fürst Bolkónski und Graf Besúchow schließlich als wieder zusammengesetzte Foto-Geschichte wieder. Auf dem Festival wird das Aufeinandertreffen wohlnicht so wahrscheinlich sein. Aber wer weiß, vielleicht tanzt irgendwann doch einmal eine ganze Seite Tolstoi in trauter wiedergewonnener Geschlossenheit nebeneinander.

Mit sehr viel kleineren Wortgruppen arbeitet der bosnische „Kunstoffizier“ Mladen Miljanović in seiner Installation „HAHAHA-AHAHAH“. Sprachübergreifend gibt es hier zumindest in einem Punkt Übereinstimmung: Je nach Blickwinkel wird man entweder den Ausruf einer Erkenntnis oder eines Erfolges erkennen. Oder eine Silbe der Aufmerksamkeit oder den Ausdruck eines kurzen Lachens. Oder?

Thema wird die „Ontologie des Dazwischen“ auch beim Symposium am kommenden Freitag, auf dem die Philosophin und feministische und Queer-Theoretikerin Antke Engel, der Coach Michael Wilmes und der Transgender-Performer Océan Le Roy sich beim ausgelassenen Kommunikations-Mahl über Entscheidungen, Kategorien und Wertungen in Kunst, Leben und Wissenschaft austauschen. Ganz praktisch Teil des Kunstcamp-Prozesses kann man außerdem in sechs Workshops werden. Mit der Belgrader Künstlerin Dušica Dražić pflegt und erweitert man da mit den eigenen mitgebrachten Zimmerpflanzen einen künstlich angelegten Park auf dem Gelände, der den Stadtteil floral und zugleich sozial kartografieren soll. Die Gruppe modular-t.org lädt ein, bei der Gestaltung ihrer Klang- und Grenziehungsskulptur „Borderville“ aus einem modularen Stahlgerüst selbst Hand anzulegen. Lernen kann man dabei eine ganze Menge über technische Konzepte von akustischen Feedback-Systemen. Anmelden muss man sich für die Workshops per E-Mail an kunst@msdockville.de.

Fließend und unentscheidbar sollen natürlich auch diesmal die Grenzen zwischen Open-Air-Kunstausstellung und Festival sein. Performances und Konzerte gibt es unter anderem von der Berlinerin Dena und dem Hamburger Kollektiv HGich.T, auf dem Butterland Open Air am Sonntag hört man Plattenteller-Musik von Move D, Èrobique, den Smallpeople, Akaak und Tilman Tausendfreund. Und auch der Vogelball für alle prächtig Gefiederten und Tänzer mit einem oder auch mehreren Vögeln bekommt eine Neuauflage. Live hören kann man am kommenden Freitag Justus Köhncke, Tama Sumo, RSS Disco und Lovegang bitten mit Platten zum Tanz, dazu gibt es Performances und natürlich jede Menge Schminke.

■ Do, 26. 7. bis Sa, 28. 7., Do, 2. 8. bis Sa, 5. 7., Do / Fr ab 18 Uhr, Sa /So ab 14 Uhr sowie im Rahmen des Festivals vom 10. 8. bis 12. 8., msdockville.de