Wenn Frauen zu Mörderinnen werden

Die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh analysiert in ihrem Buch Gewalttaten von Frauen und reflektiert, wie die Ungleichheit der Geschlechter Gewalt befördert

Nahlah Saimeh: „Grausame Frauen. Schockierende Fälle einer forensischen Psychiaterin“. Piper Verlag, München 2020, 256 Seiten, 16 Euro

Von Eva Behrendt

In gewisser Weise hatte Corinna Zuckermann Pech, dass sie auf der Schultoilette Sibylle Kuhn traf. Schwer bewaffnet wollte die 16-Jährige ihr erstes Opfer im Vorraum der Frauentoilette mit einem Schwert attackieren. Doch die Mitschülerin griff „in Todesangst und geistesgegenwärtig zugleich“ in die Klinge und konnte den Schlag abwehren. Während die Mädchen miteinander kämpften, wurde der Feueralarm ausgelöst, und statt ihr Waffenarsenal mit Flammenwerfer, Gaspistole und mehreren Molotowcocktails wie geplant einzusetzen, versuchte Corinna Zuckermann, sich das Leben zu nehmen. Sie überlebte, wie auch die „50 Schüler – mindestens“, die sie laut Tagebucheintrag hatte töten wollen.

Amoklauf ist eigentlich eine klassische Män­­ner­do­mä­ne. In der Liste der Schul­amokläufe dürfte das Verhältnis von Männern zu Frauen etwa 10:1 betragen, also ungefähr so wie generell bei Gewaltdelikten. Und bevor jemand anderes den schlechten Witz macht: Richtig, hier will niemand eine Frauenquote einführen. Auch nicht die nüchtern-sachliche und zugleich einfühlsame Forensikerin Nahlah Saimeh, die in „Grausame Frauen“ aus ihrer Berufserfahrung mit straffällig gewordenen Frauen erzählt. Der feministische Diskurs ist, obwohl ihr Thema es nahelegt, dabei eher ein Nebenschauplatz. Allerdings nicht, weil Saimeh keine feministischen Überzeugungen hätte: Sie performt Gleichberechtigung lieber mit größtmöglicher ­Selbstverständlichkeit.

Gewaltfreier werden

„Schockierende Fälle einer forensischen Psychiaterin“, heißt es etwas gouvernantenhaft im Untertitel des Buches. Dabei sind das Grauen und die Tristesse der meisten Delikte Leser*innen aus der Ru­brik „Vermischtes“ bekannt: Das Säu­fer­pärchen, das sich regelmäßig gegenseitig ver­prügelt, bis sie ihn irgendwann absticht, weil er sie gewürgt und so alte Ängste in ihr getriggert hat. Die in ihrer Kindheit selbst vernachlässigte Mutter, die zu ihren Kindern keine Bindung aufbauen kann, sie sadistisch quält und schließlich er­mordet.

Aber auch Fälle wie der von der Geliebten, die die Ermordung der Ehefrau ihres Liebhabers in die Wege leitet, oder der von der Mutter, die nicht begreift, dass sie ihre Kinder sexuell missbraucht, wenn sie sich nackt mit ihnen fotografieren lässt, um ihrem pädophilen Lover zu gefallen.

Obwohl die 1966 in Münster geborene Nahlah Saimeh für ein breites Publikum schreibt, sträubt sie sich dagegen, die voyeuristische Gruselebene, die sich in allen Fällen mühelos bespielen ließe, unnötig zu bedienen. Sowohl die Fälle als auch die Täterinnen verfremdet sie möglichst, sodass sie schwer wiederzuerkennen sind (der eingangs geschilderte Amoklauf ist dennoch leicht zu ergoogeln); der knapp geschilderte Tathergang füllt selten mehr als ein bis zwei Seiten. Auch literarische Ambitionen à la Ferdinand von Schirach sind Saimehs Sache nicht.

Ihr Schwerpunkt liegt klar auf der lesbaren Ursachenforschung und der forensischen Einschätzung, die – manchmal vor der Urteilsfindung, meist nach einem Teil der Haft – auf Schuldfähigkeitsbeurteilung und Gefährlichkeitsprognose der Delinquentinnen abzielt.

Man sieht also einem Profi bei der Berufsausübung über die Schulter: In der Diagnosesprache der forensischen Psychiatrie leiden sie, wie Saimeh in Gesprächen mit ihnen he­rausarbeitet, häufig an Borderlinestörungen, manchmal an Wahnvorstellungen, hervorgerufen durch Schizophrenie oder Psychosen und verstärkt durch Drogen, an Mangel an Selbstwertgefühl und damit einhergehender Empathielosigkeit, an Narzissmus oder eine histrionischen Persönlichkeitsstörung, die sie in besonderem Maße Aufmerksamkeit suchen lässt.

Schwere Gewaltdelikte von Frauen, so Nahlah Saimeh, irritieren „nach wie vor besonders, weil sie ein tradiertes Rollenbild auf den Kopf stellen: Sie widersprechen der Vorstellung von Frauen als sanftmütigen, stets mütterlich-warmherzigen Wesen.“

Ob solche geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster eher biologisch oder kulturell bedingt sind, lässt Saimeh offen; sie legt aber den Gedanken nahe, dass sich die beiden Faktoren wechselseitig verstärken. Und sie betont, dass die Ungleichheit der Geschlechter „Gewalt im sozialen Nahraum und sexuelle Gewalt in der Gesellschaft“ befördert: „Eine Gesellschaft, die sich der Auflösung dieser Ungleichheit verschreibt, ist eine Gesellschaft, die gewaltfreier wird.“

An welchem Punkt genau jemand eine Entscheidung trifft, die ihn straffällig werden lässt, wo exakt die sehr schmale Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ verläuft, lässt sich jedoch höchstens individuell beantworten: „Menschen zu begutachten ist nichts Schematisches.“ Mit deprimierender Regelmäßigkeit – im Buch in 7 von 8 Fällen – gehen Gewalttaten allerdings auf gestörte Eltern-Kind-Bindungen zurück. Die meisten Täterinnen entstammen zerrütteten Beziehungen, die oft mehrere Generationen zurückreichen; sie wurden als Kinder vernachlässigt, sexuell missbraucht oder einfach nicht geliebt.

Saimeh weiß, wie banal der Verweis auf die schlimme Kindheit gerade in den Ohren der Opfer und ihrer Angehörigen oft klingt. Aber gerade hierin unterscheiden sich Männer und Frauen nicht: Starke Gewaltbereitschaft gehe bei allen Geschlechtern „auf eine tiefe Verwundung in ihrem Menschsein an sich zurück“.