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Versuchskaninchen auf dem Prüfstand

Primaten, Beagle, Mäuse: Fast drei Millionen Tiere werden im Jahr in Deutschland bei Versuchen eingesetzt – trotz Alternativmethoden

Modelltier statt Tiermodell: An der Plastik-Kuh können sich Veterinäre in spe erproben Foto: Teresa Wolny

Von Teresa Wolny

Im Januar 2020 schloss die Hamburger Behörde das Tierversuchs-Labor LPT, nachdem ein eingeschleuster Mitarbeiter dort massive Verstöße gegen das Tierschutzgesetz dokumentiert hatte. Im Juli wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Göttingen gegen das Deutsche Primatenzentrum (DPZ) ermittelt. Im Oktober kündigte Berlins neue Tierschutzbeauftragte Kathrin Herrmann an, Tierversuche in der Hauptstadt stark einzuschränken. Wissenschaftsverbände dort fürchten nun um die Genehmigung ihrer Versuchsanträge. Gleichzeitig arbeiten Forscher:innen weltweit in Höchstgeschwindigkeit an einem Impfstoff gegen Covid-19 – oft mit Mäusen und Primaten, aber auch mit tierfreien künstlichen Systemen. Vom Jahr 2020 lässt sich einiges lernen über Ethik, Effizienz und Alternativen von Tierversuchen.

In der Forschung gibt es das sogenannte 3R-Prinzip. Tierversuche sollen damit so weit wie möglich durch tierfreie Forschungsmethoden ersetzt (Replace) und die Zahl der Tiere (Reduce) sowie ihr Leid in den notwendigen Versuchen auf das absolut notwendige Minimum begrenzt werden (Refine). Auch die von Hamburg im August angekündigte Bundesratsinitiative sollte dieses Prinzip fördern. Im Oktober zog das Land die Initiative jedoch zurück, weil sich unter den anderen Bundesländern keine Mehrheit für den Vorstoß abzeichnete.

Gaby Neumann vom Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ sieht das 3R-Prinzip kritisch: „Das einzige R, das überhaupt Sinn macht, ist das Replacement.“ Denn wegen der fehlenden Übertragbarkeit der Ergebnisse seien Tierversuche allgemein die falsche Methode in der Forschung. Das Festhalten an Tierversuchen, „einer Methode aus dem vorletzten Jahrhundert“, behindere den medizinischen Fortschritt. „Hätte man sich schon vor Jahren stärker auf die Alternativen fokussiert, wäre man jetzt schon viel weiter“, sagt Neumann. Dass Tierversuche durchgeführt wurden, bedeute nicht, dass sie für die betreffende Forschung notwendig gewesen wären.

Laut Tierschutzgesetz dürfen Tierversuche nur dann durchgeführt werden, wenn es für sie kein tierfreies Äquivalent gibt. In einigen Bereichen gibt es diese bereits. Auch weil Organchips und Zellkulturen mitunter einfach die besseren Methoden sind. Organchips simulieren die Reaktion verschiedener menschlicher Organe auf bestimmte Stoffe.

Multiorganchips können auch die Wechselwirkungen der Organe untereinander abbilden. Organoide wiederum sind kleine Gewebestücke, hergestellt aus menschlichen Stammzellen und somit näher am Menschen als Tiere. Zwar können sie die Komplexität eines lebenden Organismus nicht vollständig abbilden, die Mini-Organe haben aber Eigenschaften eines Organs und sind sogar als Modell für bestimmte Gehirnprozesse geeignet.

Mithilfe neuer künstlicher Systeme könne man Prozesse beobachten, die im Tierversuch gar nicht beobachtbar seien,sagt Roman Stilling, Referent der ­Initiative „Tierversuche verstehen“. „Die neuen Methoden sollen die Tierversuche ergänzen oder sogar ersetzen“, sagt Stilling. Bestenfalls, indem sie bisher unbekannte Einsichten und Vorhersagen zum menschlichen Organismus ermöglichen. Auch für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen Covid-19 werden bereits Lungenchips verwendet.

Das größte Potenzial bei den Alternativmethoden sieht Stilling derzeit bei regulatorischen Prozessen, also etwa bei der Prüfung der Giftigkeit eines Medikaments. Die Zahl der Versuchstiere in diesem Bereich ist tatsächlich gesunken: 2018 wurden laut Versuchstierdaten des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) rund 480.000 Tiere für regulatorische Prozesse verwendet. 2015 waren es noch rund 630.000 Tiere.

Stilling sieht auch in der Förderung bestimmter behördlicher Prozesse einen Ansatz, Tierversuche schneller zu reduzieren. Als Beispiel dafür nennt er das Thema Botox. Weil sie so giftig sind, muss jede neu produzierte Charge anhand von Tiermodellen untersucht werden – obwohl es Alternativen gäbe. „Das ist ein Problem, das mit der regulatorischen Akzeptanz zusammenhängt“, sagt Stilling. Bis eine Alternativmethode als Ersatz für den Tierversuch in den Arzneibüchern stehe, brauche es einen typischerweise mehr als zehnjährigen Validierungsprozess. „Das Arzneibuch wurde zum Schutz von Menschen geschrieben, nicht zum Tierschutz.“

Tierversuche werden auf EU-Ebene in der Richtlinie 2010/63/EU geregelt. Dabei geht es sowohl um die Vermeidung von unnötigen Belastungen bei den Versuchen als auch um die Haltungs- und Zuchtbedingungen. Die Zahl der in Deutschland verwendeten Versuchstiere bleibt dabei seit Jahren ungefähr konstant. 2.825.066 Tiere wurden 2018 für wissenschaftliche Zwecke verwendet, rund ein Viertel davon wurde für diese Zwecke getötet. Nicht berücksichtigt sind allerdings gezüchtete Versuchstiere, die nicht für Versuche genutzt werden. Dass die Zahlen trotz der Entwicklung von Alternativen nicht sinken, hängt laut Bernhard Hiebl, Professor am Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztier­ethologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) mit dem erhöhten Bedarf an Versuchstieren zusammen. Durch mehr Forschung, komplexere Fragestellungen und eine intensivere Ausbildung bräuchte es eigentlich sogar mehr Tiere. „Ich wäre froh, wenn es bei dem Level bleibt und wir den Anstieg weiter abbremsen können“, so Hiebl. Auch er sieht in der Akzeptanz der tierfreien Methoden eine wichtige Stellschraube. „Replacement bedeutet auch, dass die Methoden international validiert werden.“

An der TiHo wird direkt zum 3R-Prinzip geforscht. Die Erforschung von tierfreien Methoden ist aber nach Hiebls Einschätzung noch nicht attraktiv genug, um Wissenschaftskarrieren darauf aufzubauen. „Wenn man das mit den etablierten Bereichen vergleicht, muss man sich das Risiko, in diesen Bereich zu gehen, tatsächlich noch überlegen.“ Zentral ist für ihn deshalb die Schaffung eigener Institutionen wie dem 3R-Zentrum an der Berliner Charité. „Das muss ein etabliertes Thema werden.“

Ein weiteres Thema sind die Arten, an denen Versuche gemacht werden. Denn Spezies wie Schwein und Ratte sind den meisten Menschen bekanntlich egaler als solche wie Hund und Katze. Grundsätzlich habe jedoch jedes Tier den gleichen Wert, sagt Hiebl. Er wünscht sich in der Wissenschaft einen breiteren Diskurs zum Thema Ethik. „Leider ist es aber ein Tabuthema geworden, dass bestimmte Tiere nicht für alle Methoden geeignet sind.“ Rund die Hälfte aller Versuchstiere in Deutschland sind Mäuse. Ihre Zahl ist zwischen 2017 und 2018 gestiegen, für 2019 liegen noch keine Daten vor.

Man müsse sich jedoch immer fragen, ob die Nager tatsächlich das beste Modell seien. „Mäuse fühlen Schmerzen genauso wie der Hund, das merkt man auch ganz deutlich, nur sieht es beim Hund dramatischer aus“, sagt Hiebl. Das habe viel mit dem Zugang zum Tier zu tun. Es sei deshalb wichtig, dass Tierschutzbeauftragte diesen Zugang hätten. Hiebl plädiert für eine Stärkung der Position der Tierschutzbeauftragten in den Unternehmen. Auch um Zustände wie im Hamburger LPT-Labor zu verhindern. Dort hätten mehrere Kontrollinstanzen versagt. „Es ist traurig, dass es jemanden braucht, der eingeschleust wird, um die Situation zu dokumentieren.“