Katrin Seddig Fremd und befremdlich: Der Winter des lange verspotteten Glühweins
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Sicherheitszone“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Glühwein ist lange ein verspottetes Getränk gewesen. Man hat ihn überhaupt nur getrunken, weil man darauf bedacht war, die Saison nicht zu verpassen, die Glühweinsaison. Aber jetzt ist alles anders. Ich meine, warum trinkt man Glühwein? Es ist Wein mit Zucker! Der, den ich seit Jahren auf Weihnachtsmärkten aus Pappbechern trank, war meistens enttäuschend und nährte stetig die Hoffnung auf einen besseren. So hielt die Hoffnung den Glühweinverkauf am Laufen.
Aber dieses Jahr gibt es keine Weihnachtsmärkte und das Glühweingeschäft haben in Hamburg Läden ganzer Straßenzüge übernommen. Denn dieser Winter ist der Winter des Glühweins. Aber warum feiert er dieses Jahr solche Triumphe? Es glühweinduftet auf den Einkaufsstraßen von Eimsbüttel bis Ottensen, die Menschen stehen kilometerweit an, um wenigstens einen Glühwein trinken zu können, wenn es denn schon keinen Weihnachtsmarkt gibt. Außer in Lüneburg natürlich, da konnte man auf diese Tradition nicht verzichten. In Hamburg gibt es das Weihnachtsmarktgefühl ohne Weihnachtsmarkt, dafür in Form der Glühweinmeilen. In Lüneburg gibt es das Weihnachtsmarktgefühl in Form eines Weihnachtsmarktes, aber ohne Glühwein. Ist ein Weihnachtsmarkt ohne Markt, aber mit Glühwein, eher ein Weihnachtsmarkt, als einer mit Markt, aber ohne Glühwein? Und ohne unfreiwilligen Körperkontakt mit betrunkenen Fellbommelmützenträgerinnen oder Fellkragenkapuzenträgern? Oder, wenn wir diese schwierigen Fragen auf den Punkt bringen: Kommt nüchtern bei irgendwem das Weihnachtsgefühl auf?
Ich lasse diese schwierigen Fragen unbeantwortet, man mag sich daheim darüber streiten, oder auch im Kommentarbereich. Zurück zum Glühwein. Ich glaube, ich kenne niemanden, dem Glühwein richtig gut schmeckt. Aber die meisten dieser mir bekannten Menschen trinken trotzdem gerne Glühwein, mich eingeschlossen. Sobald es kalt wird, bin ich verrückt danach, irgendwo auf irgendeiner Straße im Dunkeln einen Glühwein zu trinken. Die stumpfen Zähne danach, die Benommenheit, die Kopfschmerzen bis zu Migräneanzeichen, das ist die echte Glühweinbefindlichkeit, die jede meiner Vorweihnachtszeiten begleitet hat.
Da dieses Jahr so anders war, so ungewohnt, so anstrengend, so zerstritten, so traurig und erschreckend, habe ich die Vermutung, dass sich die Menschen mehr als sonst nach einer Sache, wenigstens einer einzigen kleinen Sache sehnen, die genau so beknackt ist, wie jedes Jahr: Glühwein! Der Glühwein steht für so vieles: für unser Recht auf schlechte Getränke, unser Recht auf gemeinsames neben-parkenden-Autos-Rumstehen und natürlich gemeinsames Betrinken, für die Unvernunft und die Geselligkeit. Und viele Menschen genießen ihn mit Abstand und draußen. Was ja auch gut ist. Aber andere eben doch nicht so mit Abstand, was nicht so gut ist.
Ich selbst greife zurzeit auf die Thermoskanne zurück. Mit selbst erwärmten Glühwein aus dem Tetrapack gehe ich in Planten un Blomen spazieren, gönne mir ab und zu einen Schluck in Erwartung des Kopfschmerzes. Natürlich könnte ich den Glühwein auch selbst zubereiten, mit Gewürzen und gutem Wein, aber: Ist das der Glühwein, an den ich gewöhnt bin? Bescherte mir der das richtige Weihnachtsgefühl? Ich weiß, dass ich die Leser*innen mit solchen Fragen provoziere, aber anständig zu streiten, hat noch niemandem geschadet. Ich werfe noch ein paar Themen für den abendlichen Weihnachtsschnack in die Runde: Ist es möglich, Grünkohl ohne fettem Fleisch zuzubereiten, gar vegetarisch? Darf man am Heiligen Abend schon groß auftischen, oder erst am ersten Feiertag? Ist es falsch, anlässlich von Weihnachten etwas zu spenden, weil man besser das ganze Jahr über spenden soll (was man nicht tut, aber diese Aussage hört sich irgendwie gut an)? Und was trinken eigentlich die vielen Menschen um siebzehn Uhr, außerhalb der Glühweinsaison?
Nachtrag: Eben erfahre ich, dass es sich ausgeglüht hat, zumindest zwischen 16 und 22 Uhr in Eppendorf und Ottensen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen