Der Himmel schämt sich

Im richtigen Moment am richtigen Ort, dem Regen zum Trotz: Die Tango-Dekonstrukteure des Bajofondo Tango Club lehren bei den Heimatklängen Unabhängigkeit und das neue Arschdrehen. Auch für heißblütige Tangopärchen

Leise fluchend schlich ich das Treppenhaus runter, der Regen klatschte gegen die verdreckten Scheiben. Wo willst du denn hin, fragte die Nachbarin. Zu den Heimatklängen. Aber ist das nicht open air? Und du willst da mit dem Rad hin? Alles egal, muss mir irgendeinen neuen Tangoscheiß aus Argentinien reintun. „Aber so schlecht gelaunt kannst du doch gar nicht objektiv darüber berichten.“

Auf dem Rad dachte man dann natürlich, man sei wirklich bescheuert. Wahrscheinlich würden all die ach so heißblütigen Tangopärchen mit ihrer andressierten Erotikmasche auftauchen. Vielleicht sollte man unterwegs bei der SPD-Zentrale, Stresemannstraße, versuchen in Münte oder seine Leute reinzurasen, „Verräterschweine“ brüllen und sich mit dem Bike kamikazemäßig in die Bodyguards werfen, das wäre mal einen Armbruch wert. Schon träumt man von der Headline. Aber wieder keiner da bei der alten Tante Sozialdemokratie. Hier schläft man neuerdings schon kurz nach der Tagesschau den Schlaf der gerechten Selbstauflöser.

Am Potsdamer Platz vorm Hyatt flammte der Hass aufs System noch mal kurz auf. Angefacht durch neue Schauer überlegte man, mit dem Rad eine schwarze Spur durchs Hyatt zu ziehen, immerhin eine überdachte Abkürzung. Aber auch hier siegte die pure Vernunft. Dafür tauchte plötzlich eine echte Demo gegen die Bundeswehr auf, die den Weg versperrte. Auch verlockend. Doch in der Luft lag plötzlich leise etwas noch viel Anziehenderes: ein Sound aus Bandoneons, Electrobeats und einer schmeichelnden Stimme, der von Cristóbal Repetto. Sogar unter dem großen, tropfenden Baum vor der Stabi ahnte man nun, dass sich all die Wut auf alles bald in etwas anderes, vielleicht sogar Schöneres transformieren würde.

Kurz nach diesen pathetischen Gedanken stoppte der Regen sein elendes Handwerk. Der Himmel schämte sich sogar ein wenig und wurde rot. Tatsächlich stand ein Häuflein von vielleicht 250 Fans des Bajofondo Tango Club auf der schrägen (endlich kann man das Wort mal wieder benutzen) Steinfläche, die den Heimatklängen langsam doch noch zur angemessenen neuen Heimat zu werden scheinen.

Mit Bajofondo, was angeblich Underground bedeutet, steht eine argentinische Band auf der Bühne, die den Traditionalisten, den Touristen des Tangos das Handwerk legen möchte. Wirklich schauen einige gesetztere Herrschaften irritiert, als der Club immer mehr Technik auf die Bühne schleppt, Tücher über einem DJ-Pult lüftet und auch noch ein Girl im Glitzertop singend einschreitet. Ein, zwei Leute gehen lieber weiter nach hinten zu den Ethnoständen mit fester und flüssiger Nahrung aus den jeweiligen Heimatländern der Bands, als Veronica Loza zur rechten Seite der Bühne wandert, ihr Notebook aufschlägt und andere verkabelte Gerätschaften bedient.

Sie ist die Visualbeauftragte des Clubs, und allein, was sie an diesem denkwürdigen Abend raushaut, ist fantastisch. Verfallene Fahrstühle zum Tangoschafott und Straßenschilder zu einem Stadtteil von Buenos Aires, der Independente zu heißen scheint, schießen über die Leinwand.

Langsam beginnt dieses leichte Kribbeln auf der Haut, das man bekommt, wenn man realisiert, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein und einen schlicht grandiosen Liveauftritt zu erleben. Composer und Gitarrist Gustavo Santaolalla grient denn auch immer wieder in die Zuschauer, die ersten formieren sich zu kaputten Tangotänzen, schieben sich aber nicht mit diesen blöden Gesichtern über die trocknenden Steine. Inzwischen sind drei Notebooks im Spiel, Geige, Bandoneon. Alles geht in Ordnung, es groovt, scratcht und tuckert, wir drehen die Hintern, recken die Arme. Schöner könnte nur noch sein, die Tangodekonstrukteure in einem Club mit tausend ausflippenden Leuten zu erleben oder bei Sonnenschein hier. ANDREAS BECKER

Bajofondo Tango Club bei den Heimatklängen, heute & morgen jew. 21.30 Uhr, So. 19 Uhr, Kulturforum Potsdamer Platz, Eintritt 5 Euro