Schule offen, Schule zu?

Schulschließungen, Wechselunterricht oder doch nur Luftfilter – in Deutschland spitzt sich die Debatte um den Schulbetrieb in der Coronakrise zu. Wie sieht es bei den europäischen Nachbar:innen aus? Ein Blick nach Tschechien, Frankreich, Österreich und Spanien

Sie darf zum Präsenzunterricht kommen: Grundschülerin in Barcelona am ersten Schultag nach dem Lockdown Foto: Emilio Morenatti/ap/picture alliance

Tschechien: Wer nicht klickt, der fehlt

Aus Prag Alexandra Mostyn

Bevor die Achtklässlerin Katarina dieser Tage morgens aus ihrem Bett im siebten Prager Bezirk steigt, hat sie schon die erste Schulstunde hinter sich. Seit einem Monat ersetzt der virtuelle Meeting-Room die traditionellen Klassenzimmer Tschechiens. Jedes Fach hat dabei seinen eigenen Link, es gilt: Wer nicht klickt, der fehlt.

Darf Katarina morgens sonst die Tram nicht verpassen, die sie zu ihrer Schule am Prager Wenzelsplatz bringt, 14 Minuten von zu Hause entfernt, reichen ihr in Notstandszeiten ein Handy und eine Internetverbindung, damit sie ihre gesetzliche Schulpflicht erfüllt. „Bis Weihnachten könnte das von mir aus noch mindestens dauern“, lacht die Achtklässlerin.

Nicht nur für tschechische Schülerinnen und Schüler ist der Unterricht bequemer, seit die Regierung im Rahmen ihrer Anti-Corona-Maßnahmen sämtliche Bildungseinrichtungen der Republik geschlossen hat. Von der Grundschule bis zur Universität ist nun sämtliche Kommunikation auf Google, Skype oder Team-View beschränkt.

Viele der Schulen kommen gerade so mit den Kernfächern nach: Mathe, Tschechisch, Fremdsprache. Im Durchschnitt unterrichten viele Schulen so nur noch vier anstatt sechs Stunden pro Tag. „Dafür haben wir aber mehr Aufgaben“, betont Katarina und erzählt von ihrer Power-Point-Präsentation für das Fach Gemeinschaftskunde.

Unterricht light für Schülerinnen und Schüler – aber nicht unbedingt für die Eltern. „Bei drei Kindern bin ich um zwölf Uhr mittags schon völlig fertig“, stöhnt Petr Novotný, der in seinem Job als Architekt dem Rat der Regierung folgt und, soweit es geht, im Homeoffice arbeitet.

Über die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, so fand eine Studie des Gesundheitsministeriums heraus, bleiben in diesen apokalyptisch anmutenden Zeiten am heimischen Schreibtisch. Denn im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind nicht nur die Schulen geschlossen und die Firmen im Homeoffice. Auch Gaststätten und Geschäfte sowie kulturelle Einrichtungen wurden durch Covid-19 in einen Dornröschenschlaf versetzt.

Wie lange der noch anhalten wird, weiß niemand so recht. Schon am Donnerstag müssen Schülerinnen und Schüler der ersten beiden Klassen zwar wieder zum Präsenzunterricht erscheinen. Weitere Lockerungen hat die Regierung bislang jedoch noch nicht angekündigt: „Die Rückkehr in die Schulen wird schrittweise erfolgen“, erklärt Schulminister Robert Plaga seit Ende letzter Woche.

Frankreich: Schlechte Noten für die Regierung

Aus Paris Rudolf Balmer

Innerhalb einer Woche, vom 5. bis 11. November, hat sich die Zahl der positiv auf Covid-19 getesteten Schüler:innen in den Grund- und Mittelschulen laut dem französischen Erziehungsministerium auf 12.487 vervierfacht. Insgesamt verzeichnet Frankreich täglich zwischen 30.000 und 50.000 bestätigten Neuinfektionen. Trotz dieser bedenklichen Entwicklung möchte Premierminister Jean Castex, der die zweite Lockdown-Periode bis zum 1. Dezember verlängert hat, die öffentlichen Schulen weiter offen halten. Nur die Hochschulen sind weitestgehend geschlossen.

Zahlreiche Eltern von Schulkindern sowie die Gewerkschaften der Lehrer:innen äußern jedoch ihre Besorgnis. Auf Twitter veröffentlichte ein Kollektiv von Beamt:innen des Erziehungssystems Fotos, die zeigen, wie wenig die Vorsichtsmaßnahmen umgesetzt werden. Diese internen Kriti­ker:in­nen nennen sich „Stylos rouges“ – „Rotstifte“. Sie haben sich zum Sprachrohr der Proteste im öffentlichen Schulsystem Frankreichs gemacht und kreiden an: Denn Warteschlangen von Schüler:innen, hoffnungslos überfüllte Schulrestaurants, Mangel an Masken und Platz für den nötigen Abstand sind die Regel. Am Dienstag vergangener Woche haben deshalb mehrere Gewerkschaften einen Streik organisiert. Marc D., Geschichtslehrer in einem Collège (untere Mittelschulstufe) in Versailles, erklärt dazu: „Bezüglich der Covid-Vorschriften sagt man uns ständig‚ diese sollten ‚wenn möglich‘ eingehalten werden. Konkret aber ist dies so gut wie nie und nirgends möglich.“ In den Gängen und beim Betreten der Klassen seien die Schüler dicht beieinander.

Dass die Schulen offen bleiben, entspricht der Regierungsstrategie, dieses Mal die Wirtschaft, soweit es geht, in Gang zu halten. Die Schulleitungen sind gehalten, die Einhaltung der Abstandsregeln zu organisieren und wenn möglich den Unterricht in halbierten Klassen durchzuführen. Zudem müssen Schüler:innen ab 11 Jahren und das gesamte Personal Masken tragen. Seit Neustem sollten auch die Kleineren ab 6 eine Maske tragen. Alexandra Zins-Lavigne, Mutter von zwei Schulkindern in Paris, meinte gegenüber der taz: „Das ist nicht nur ein zusätzlicher Kostenfaktor, sondern auch für meinen 7-jährigen Sacha nach kurzer Zeit schlicht unerträglich. Wenn wirklich eine große Infek­tionsgefahr besteht, müssten sie konsequenterweise die Schulen schließen.“ Der Regierung würde sie in Sachen Covid-Politik eine „schlechte Betragensnote“ geben.

Österreich: Glaubensstreit um Schulschließungen

Aus Wien Ralf Leonhard

Der Kampf ist entschieden: Am Dienstag ging Österreich in einen zweiten harten Lockdown, der auch den Kindern im Pflichtschulalter Distanzunterricht verordnet. Bis 6. Dezember öffnen die Schulen nur für jene Schülerinnen und Schüler, deren Eltern die Betreuung nicht wahrnehmen können. Bildungsminister Heinz Faßmann (parteilos auf einem ÖVP-Ticket) versprach, dass die Kinder dort nicht nur verwahrt, sondern auch in Kleingruppen unterrichtet würden. Dafür sollen etwa Lehramtsstudierende kurz vor dem Abschluss angeworben werden.

In den Direktionen scheint diese Botschaft nicht flächendeckend angekommen zu sein. Die pensionierte Schuldirektorin Heidi Schrodt teilte auf Twitter das an die Eltern gerichtete Schreiben einer Schule, in dem es wörtlich heißt: „Für Kinder, deren Eltern außer Haus arbeiten und die unbeaufsichtigt wären, besteht die Möglichkeit, dass sie von 8.00 bis 11.45 vormittags in der Schule von einer Lehrerin/einem Lehrer in einer jahrgangsübergreifenden Gruppe betreut werden. (Kein Unterricht, nur Betreuung)“. Die von vielen Eltern und Bildungs­experten gehegte Befürchtung, die ohnehin schon abgehängten Kinder würden durch den Lockdown weiter an Terrain verlieren, wird dadurch nicht gerade entkräftet.

In den letzten Wochen hatte ein wahrer Glaubenskrieg um die Schulen getobt. Nicht nur gestresste Eltern traten dafür ein, den Unterricht unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, die als Epidemiologin und ehemalige Gesundheitsministerin weiß, wovon sie spricht, findet die Lösung nicht in Ordnung. Nicht nur weil Kinder unter 14 „keine oder eine geringe Rolle“ spielten, sondern auch wegen „Nebenwirkungen“, die von schwer zu schließenden Bildungs­lücken bis zu Engpässen bei der weiblich dominierten Spitalspflege reichten.

Die These, dass Kinder weniger ansteckend seien, wird allerdings von einer am Wochenende veröffentlichten Dunkelzifferstudie im Auftrag des Bildungsministeriums entkräftet. Universitäten in vier Bundesländern haben 10.000 Schulkinder zwischen 6 und 14 Jahren sowie Lehrpersonen mit Gurgeltests untersucht. Ihr Ergebnis: Unter den 40 positiv getesteten lässt sich weder ein signifikanter Unterschied in der Ansteckungsrate zwischen Lehrern und Kindern, noch zwischen den unter 10-Jährigen und den 10- bis 14-Jährigen erkennen. Damit werde widerlegt, dass jüngere Kinder weniger anfällig für Ansteckungen seien.

Spanien: „In vielen Haushalten gibt es keinen Computer“

Foto: privat

Isabel Galvín

ist Generalsekretärin der Lehrergewerkschaft Feccoo in der Region Madrid und Didaktik-Professorin an der Madrider Universität Complutense.

Interview Reiner Wandler

taz: Frau Galvín, Ihre Gewerkschaft hat sich wie keine andere Organisation für Schulöffnungen nach dem Lockdown eingesetzt. Wäre Onlineunterricht nicht besser und sicherer?

Isabel Galvín: Die konservative Regionalregierung in Madrid wollte die Schulen nicht öffnen. Denn das wäre billiger gekommen, als sie auf einen sicheren Betrieb vorzubereiten. Aber nur der Unterricht in den Schulen selbst garantiert die Chancengleichheit.

Wieso das?

In vielen Haushalten gibt es keinen Computer. In anderen nur einen, der dann auch noch von den Eltern im Homeoffice belegt ist. Über 100.000 Kinder arbeiteten am Handy, oft dem der Eltern. Waren diese für die Arbeit unterwegs, konnten die Kinder erst nach Feierabend ihre schulischen Pflichten erledigen. Nirgends in Spanien gibt es so wenige Computer und so schlechtes Internet an den Schulen wie hier in Madrid. Zudem sorgt die Schule nicht nur für einen Abschluss, sondern auch dafür, dass die Schüler sich dem von der Gesellschaft verlangten Standard annähern, damit sie anschließend mehr oder weniger erfolgreich sind. Die Schule bedeutet das Erlernen von Alltagsregeln wie feste Zeiten, Hygiene, Ernährung, Kleidung. In Haushalten, die genau damit Schwierigkeiten haben, verschärft sich dies im Lockdown.

Sie werfen der konservativen Regionalregierung vor, die Chancengleichheit nicht zu verteidigen?

Nirgends in Spanien und kaum irgendwo in Europa ist die soziale Ungleichheit im Schulsystem so groß wie hier. Das ist das Ergebnis der extrem neoliberalen Bildungspolitik. Knapp die Hälfte der Schüler geht nicht auf öffentliche Schulen, sondern auf staatlich subventionierte Privatschulen, die auch noch wesentlich besser finanziert werden. Das führt zu einer extremen Ungleichheit in der Bildung, zu zwei Parallelwelten.

Sie haben eine Kampagne für Schulöffnungen gestartet, die bis zum Streik am ersten Schultag ging, weil da noch immer die Hälfte der 10.600 versprochenen zusätzlichen Lehrer fehlten. Waren Sie erfolgreich?

Wir haben dafür gesorgt, dass in Spanien überhaupt über das Thema Schule geredet wurde. Noch Mitte August konnte niemand sagen, was am 1. September geschehen sollte. Die öffentliche Debatte drehte sich um Tourismus und Gastronomie. Von den Schulen redete keiner. Wenn es keinen Lockdown für die Gastronomie gibt, wenn wir es uns nicht leisten können, die Wirtschaft lahm zu legen, wie können dann die Schulen geschlossen bleiben? Bildung ist die Wirtschaft von morgen, es geht um die Post-Covid-Bürger. Wir haben diese Debatte gewonnen.

Was haben Sie konkret erreicht?

Überall im Land wurden die Schulen geöffnet. Die Zentralregierung stellte aus den EU-Covid-Fonds Geld für die regionalen Bildungsministerien zur Verfügung. In Madrid haben wir zum ersten Mal seit der Eurokrise durchgesetzt, dass Privatschulen nicht bevorteilt werden. Es wurde 13 Prozent mehr Personal eingestellt, neue Klassenzimmer aufgemacht – entweder in bestehenden Räumlichkeiten oder in Containern –, um die Klassenstärke zu verringern. In einer Region, die der Covid-Hotspot schlechthin war, haben wir mit die sichersten Schulen im Land.