Feigenblätter in Reserve

Satire geht in Stuttgart gar nicht, davon ist der Bildhauer Peter Lenk überzeugt. Eigentlich. Doch nun hat er seinen Laokoon vor dem Stuttgarter Stadtpalais aufgebaut. Gut gelaunt und voller skurriler Anekdoten. Und, Obacht: mit dem Segen der Hauptfigur.

Applaus brandet auf, als der Laokoon vor dem Stadtpalais einschwebt. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Susanne Stiefel↓

Auf Stuttgart 21 mag, entgegen mancher SPD-Meinung, nicht Gottes Segen liegen. Aber immerhin etwas darunter: Peter Lenk und sein „Denkmal einer skurrilen Entgleisung“ haben des Ministerpräsidenten Wohlwollen. Winfried Kretschmann findet’s schon mal gut, dass das unterirdische Projekt kritisch gewürdigt wird und seine Position als Hauptdarsteller, also als schwäbischer Laokoon, gut getroffen ist. „Richtigerweise hat Peter Lenk mich nicht bei den feixenden kleineren Gestalten seines Kunstwerks eingereiht, sondern mit mürrischem Blick ausgestattet“, so der grüne Regierungschef in einer Stellungnahme. Von dem Feigenblatt, das den nackten Kämpfer schmückt, hat der Künstler jedenfalls schon mal zwei weitere Exemplare angefertigt. Sicherheitshalber. Als Reserve.

Bereits am Dienstag haben viele Neugierige die Plastik bestaunt, und unter den rund 150 feixenden kleineren Gestalten nach bekannten Gesichtern aus Wirtschaft und Politik gesucht, die bei dem camou­flier­ten Immobilienprojekt mitgemischt haben. Oet­tinger, Teufel, Mappus, Gönner, Schuster – alle sind sie versammelt. Und sicher wird auch der eine oder die andere von ihnen am Stadtpalais heimlich vorbeischauen, ob und wie sie vom Satiriker vom Boden­see auf die Schippe genommen wurden. Denn vor Peter Lenk ist keiner sicher.

Zweieinhalb Jahre hat der 73-Jährige an diesem Denkmal gearbeitet, schließlich ist es knapp zehn Meter hoch und wiegt ebenso viele Tonnen. Rund 2.500 Arbeitsstunden, so Lenk, habe er in dieses Großprojekt gesteckt, das sein letztes sein soll. Die Kraftanstrengung ist ihm anzumerken. Tausend SpenderInnen haben Geld gegeben für die Material- und Aufbaukosten, die sich auf 150.903,89 Euro belaufen, das hat der Lenksche Steuerberater bis auf den letzten Cent ausgerechnet. 135.000 Euro haben die Freunde und Freundinnen von „Lenk in Stuttgart“ bereits gesammelt und überwiesen. „Wir kriegen die 150.000 noch voll“, sagt Winfried Wolf, der Organisator der Kollekte, in der Nacht der Aufstellung.

Selbige wird ein Stelldichein für viele. Kulturamtsleiter Marc Gegenfurtner lässt sich unter der Maske grinsend vom Künstler erklären, warum der zwei Ersatzfeigenblätter bereit hält: „Kann ja sein, dass das geklaut wird.“ Veronika Kienzle zückt die Lesebrille und beugt sich über die Spendentafel, um sich die Namen genauer anzuschauen. Dem Vernehmen nach hat sie mit Engelszungen auf Stuttgarts OB Fritz Kuhn (Grüne) eingeredet, dass er dem Denkmal endlich zustimmt. Hannes Rockenbauch kommentiert das mürrische Gesicht des Laokoon anders als der Ministerpräsident selbst: „Er weiß, dass er einiges falsch gemacht hat.“

Und als der Laokoon von zwei Kränen auf den Sockel gehievt wird, steigt die Spannung: Es ist eine handwerkliche Meisterleistung, was die Männer von Broziat, einem Singener Transportunternehmen, hier schaffen. Für lau übrigens, weil sie Lenk gut finden. Nichts darf beschädigt werden, Tonnen müssen in Feinarbeit millimetergenau auf dem Sockel platziert werden. Geht alles gut, wie sie es am Freitag zuvor in Bodman schon in einer Generalprobe trainiert haben? Es geht. Erleichterung bei Künstler und Handwerkern, Applaus bei den Zuschauern und im Hintergrund ploppen die Bier-Bügelflaschen. So kann man eine Enthüllung auch feiern.

Dass Peter Lenk und seine künstlerischen Streiche die Fantasie anregen, ist nichts Neues. Selbst die brave Nachrichtenagentur dpa, nicht eben bekannt für Lustigkeit und Spielerei, glänzt vor der Enthüllung mit einer aufmüpfigen Montage, in der eine giesgrämige Lenk-Figur, die stark an Angela Merkel erinnert, auf die S-21-Baustelle herunterblickt. Dem Künstler gefällt’s, Nachahmung ist ausdrücklich erwünscht.

Und manchmal bekommt der anarchi­stische Schalk sogar Unterstützung von unerwarteter Seite. In Berlin inte­res­sierten sich die katholischen Landfrauen für das ehemalige taz-Gebäude in der Kochstraße. Gefragt, ob sie der Pimmel am Gebäude nicht störe, gaben sich die frommen Frauen tolerant: „Ooch nö, das ist doch nett.“

Die Stuttgarter Lenk-Skulptur soll zunächst bis zum 31. März 2021 vor dem Stadtpalais stehen. Was danach passiert, ist noch offen. Doch Lenksche Kunstwerke haben die Tendenz zu bleiben.