Die Verteilung des Sinnlichen

KRITISCHE THEORIE Am Wochenende sprach der französische Philosoph Jacques Rancière in Berlin über Fiktion und Wirklichkeit – und über das gute alte Aussteigermodell

VON DORIS AKRAP

Keine leninistische Propaganda (Slavoj Žižek), keine messianische Revolutionstheorie (Alain Badiou) und keine Analogien zwischen Gegenwart und Faschismus (Giorgio Agamben) bringen ihn ins Gerede. Jacques Rancière ist ein politischer Philosoph, der ganz ohne populistischen Radikalismus auskommt. Seine Studien zu Ästhetik und Politik liefern kritische Theorien, die im Spannungsverhältnis von Fiktion und Wirklichkeit ein Potenzial zum Bruch mit dem Bestehenden ausmachen.

Ehemals Schüler von Althusser, wendete sich Rancière wie viele andere von seinem Meister 1968 ab. In dessen kulturpessimistischer Theorie war kein Platz für den emanzipatorischen Gehalt der spontanen Rebellion. Nach dieser Ernüchterung recherchiert Rancière zu dem schwierigen Verhältnis zwischen Philosophie und Arbeiterbewegung, beschäftigt sich mit Geschichtskonzepten und versucht sich schließlich nach dem Ende des Realsozialismus an einer progressiven Kunsttheorie. Mittlerweile ist der emeritierte Philosoph unter Kunsttheoretikern mit politischem Anspruch weltweit en vogue und gilt als einer der wichtigsten Ideengeber.

Revolutionärer Realismus

Dieses Jahr ist Rancière Research Fellow des Sonderforschungsbereichs 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ der Freien Universität Berlin. Vergangene Woche hielt er drei Vorträge in Berlin, um seine Theorien an Beispielen aus Literatur, Kunst und Film zu erläutern.

Im Zentrum seines ersten Vortrags „Der Realitätseffekt und die Politik der Fiktion“ im ICI Kulturlabor stand die Literatur des Realismus im 19. Jahrhunderts. Ihr Bruch mit den Hierarchien der Repräsentation sei bis heute verkannt. Der Realismus habe die Trennung zwischen dichterischer Erzählung und wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit aufgehoben. Was Rancière hier mit seinem komplizierten Theorem von der „Verteilung des Sinnlichen“ zu skizzieren versucht, ist die Aufforderung, Erzählungen nicht nach Kriterien von wahr oder falsch zu bemessen, sondern Fiktion und Wirklichkeit als immer vorhandene Teile von Darstellung und Wahrnehmung zu begreifen. Kunst müsse den Betrachter aus dem Status des passiven Beobachters holen und ihn zu einem Dialogpartner machen. Nur im „Austausch der Erfahrungen“ lasse sich eine einflussreiche Gegengeschichte zu herrschenden Narrativen herstellen.

Thomas Demands künstlerische Arbeiten zu (deutscher) Geschichte liefern dafür ein gutes Beispiel. In der Neuen Nationalgalerie, wo seine Fotos gegenwärtig gezeigt werden, erläutert Rancière, dass diese durch ihr Prinzip der Konstruktion (Demand stellt Modelle von Fotos her, die er dann erneut fotografiert) geradezu zwingend in einen Dialog mit dem Zuschauer träten. Dies bringe den Betrachter dazu, sich mit den inhaltlichen Schichten des Gezeigten auseinanderzusetzen. Das Foto von der „Heldenorgel“ etwa, 1931 in Kufstein aufgestellt, um an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu erinnern, führe – ohne zu „terrorisieren“ – zu einer „dialogischen Konstruktion von Gemeinschaft“, die in der Erinnerung an die Vergangenheit konstituiert werde.

Aber hat diese „dialogische Konstruktion“ nicht ein wenig den Beigeschmack von Versöhnung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit? „Versöhnung?“, staunt Rancière im Gespräch, versöhnt seien doch vor allem die Linken und zwar mit dem derzeitigen Zustand der Demokratie und des Kapitalismus. Er sei den melancholischen Diskurs der Linken leid, die behaupteten, das Ende der Geschichte sei erreicht und Alternativen zum Bestehenden seien ausgeschlossen. „Ich begreife meine Arbeit darin, mit den Plots der Notwendigkeit zu brechen und zu zeigen, dass das vermeintlich Unmögliche immer noch denk- und machbar ist.“ Ein Beispiel dafür hätten wir immerhin gerade erlebt, die Protestbewegung im Iran.

Platz für neue Identitäten

Ein künstlerisches Vorbild für eine solche Haltung zeigte Rancière dann in seinem letzten Berliner Auftritt im Kino Arsenal. Dort präsentierte er den Film „Inland“ des algerischen Regisseurs Tariq Teguia. Dieser erzählt die Geschichte eines desolaten linken Intellektuellen in einer algerischen Stadt, der als Landvermesser ins Inland geschickt wird. Statt seinen Job zu machen, hilft er einer Schwarzafrikanerin, die nach Europa flüchten wollte, nun aber genug von dem lebensgefährlichen Trip hat. Die weiten Totalen, die Unschärfen, die endlose Leere der Wüste und die Reise der beiden Figuren, die kein eindeutiges Ziel hat, interpretiert Rancière als eine Entleerung der Räume, ein Zurücklassen der herrschenden Zwänge, das Platz für neue Identitäten schafft und im Austausch verschiedener Erfahrungen kreiert wird. Ein bisschen erinnert das Ganze an das alte Aussteigermodell, doch dem Charme einer solchen dialogischen Utopie darf man erliegen und sie einer resignierten Linken empfehlen.