Die etwas andere Wohngemeinschaft

In der Neustadt lebt Bremens erste Demenz-WG. Vermieter ist der Verein „Die Woge“. Er bietet damit eine familiäre Alternative zu Heimaufenthalten

Acht Menschen zwischen 59 und 93 Jahren leben in der WG, alle im fortgeschrittenen Stadium

Frau N. sitzt am Kaffeetisch in der offen geschnittenen Wohnküche und singt. Laut singt sie, denn sie ist gereizt. Frau K., zwei Plätze neben ihr, blickt von ihrem Kuchenteller auf und rollt mit den Augen. Leise stöhnt sie auf, tauscht Blicke mit den anderen Senioren an der Kaffeetafel. „Das muss doch nicht sein“, schimpft sie, und fügt gleich darauf an: „Das schreiben Sie aber jetzt nicht auf, das dürfen Sie erst später schreiben“.

Die beiden Seniorinnen sind Mieterinnen in der ersten Demenz-WG in Bremen. „Mieterinnen, nicht Bewohnerinnen“, betont Marlene Keilhack, Mitbegründerin des Vereins „Die Woge“, der mit einer Wohngemeinschaft für Demente eine Alternative zum Heimaufenthalt geschaffen hat. Seit 2002 gibt es den Verein, im Dezember 2003 zogen die ersten MieterInnen ein. Inzwischen leben acht Menschen zwischen 59 und 93 Jahren in der WG, alle im fortgeschrittenen Stadium der Demenz.

„Bei uns läuft der Tag anders ab als in einem Heim“, erklärt Keilhack: „Unser Tagesablauf richtet sich nach den Bedürfnissen und Wünschen der MieterInnen, und nicht umgekehrt.“ Tagsüber sind immer zwei BetreuerInnen da, eine Pflegekraft und eine Hauswirtschaftshilfe, für die Nächte gibt es Nachtwachen. Die Angehörigen kommen häufig, manche täglich, und packen ebenfalls mit an, auch ehrenamtliche Kräfte helfen.

Der Verein, der aktuell 23 Mitglieder hat – größtenteils Sympathisanten –, vermietet die Zimmer der Neustädter Wohnung direkt an die Dementen bzw. ihre Angehörigen. Die Angehörigen selbst schließen für die Betreuung der Dementen Verträge mit einem Pflegeservice ab. „So können wir mitbestimmen, welche Qualifikationen die PflegerInnen mitbringen müssen“ sagt Keilhack, deren Mann seit Beginn in der Wohngemeinschaft lebt.

Eine Angehörigensprecherin regelt Fragen zwischen Pflegeservice und Angehörigen. Da nicht alle Angehörigen auch im Verein sind, wird in getrennten Treffen regelmäßig alles Nötige besprochen – über die Aufnahme neuer WG-Mitglieder beraten Verein und Angehörige zusammen.

„Natürlich bedeutet so eine WG viel mehr Einsatz auch von Seiten der Angehörigen“ sagt Sabine Heinke, die ihren Vater besucht: „Es muss organisiert werden, wer einkauft, was es zu essen gibt, wie der Haushalt geführt werden soll.“ Zu Beginn sei das sehr viel Arbeit gewesen, da es in Bremen keine Erfahrungen gegeben hätte, auf die sie sich hätten stützen können, ergänzt Keilhack. Und doch haben beide Frauen die Mühen nicht gescheut – zu negativ waren die Erfahrungen ihrer Angehörigen in den Pflegeheimen: „Demente stören dort überall. Die anderen Senioren verstehen nicht, dass die einfach in die Zimmer reinlaufen, auf fremde Teller greifen“ sagt Heinke. Ihr Vater sei im Pflegeheim den ganzen Tag auf sich allein gestellt gewesen – für individuelle Betreuung habe dem Pflegepersonal die Zeit gefehlt.

„Demente sind aber immer noch Persönlichkeiten, sie wissen irgendwie um ihre Situation“ ist sich Heinke sicher. Ihrem Vater gehe es in der Demenz-WG besser als im Heim, und auch sie selbst fühle sich wohler. „Ich kann im Haushalt mithelfen, und habe so nicht dieses typische Gefühl des Altenheim-Besuchs“, sagt sie.

Gerade nachmittags wird es in der Wohngemeinschaft sehr lebendig, sagen alle Beteiligten einhellig. Während Frau N., die zwischenzeitlich in ihrem Zimmer war, nun friedlicher gestimmt ein paar Kekse verzehrt, zieht es Herrn H. vom Kaffeetisch. Er braucht Bewegung. Manchmal, schildert Pflegerin Barbara Jung, täten sich auch Frau N. und Herr H. zusammen, zu ausdauernden Spaziergängen in der 291 Quadratmeter großen Wohnung. Jung empfindet die Arbeit mit den WG-Angehörigen als sehr befriedigend. Weil sie früher selbst in Pflegeheimen gearbeitet hat, weiß sie um die Zeitnot dort. Umso schöner empfindet sie die Vertrautheit in der WG: „Hier kann ich den Menschen gerecht werden“, sagt sie, und unterbricht das Gespräch, um mit Herrn S. einen kurzen Schnack auf Plattdeutsch zu halten.

Die großfamiliäre Atmosphäre der WG ist es, die Jung schätzt. Wenn sie es noch können, arbeiten die Dementen im Haushalt mit, und wer mittags keinen Appetit hat, kann auch später essen. „Es gibt hier nicht so strenge Regeln,“ sagt sie. Das Anziehen und Waschen am Morgen müsse nicht in zehn Minuten absolviert werden wie etwa im Pflegeheim, sondern könne auch mal eine halbe Stunde oder länger in Anspruch nehmen, erklärt auch Sabine Heinke. Man werde eben kreativ im Umgang miteinander, sagt sie und fügt mit Blick auf ihren sehr aktiven Vater lachend an: „Und Rasieren im Gehen kann hier inzwischen jeder.“

Tanja Krämer

„Die Woge“ sucht immer ehrenamtliche Helfer und Spender. Infos geben Marlene Keilhack, ☎ 0421 / 58 05 77 oder Dagmar Katz, ☎ 0421 / 41 64 78