Ein Leben im Kampf

Wenn Lance Armstrong keinen Feind hat, erfindet er sich einen. So hat er sieben Mal die Tour de France gewonnen. Nun steigt er vom Rad. Seinen Kampf aber wird er weiterführen – wie auch immer

„In der Politik könnte er weiter kämpfen und es ginge, wie im Radsport, um einen großen Jackpot“

VON SEBASTIAN MOLL

Diese Anekdote muss vielleicht erzählt werden, um zu verstehen, warum der Radprofi Lance Armstrong so ist, wie er ist. Sie trug sich Anfang letzten Jahres zu und somit in einer Phase, in der der Amerikaner gezwungen war, mehr Zeit als gewohnt in den USA und weniger in Europa zu verbringen. Er hatte sich gerade von seiner Frau getrennt, die Familie zog sommers nicht mehr mit dem Champion in dessen Haus in Spanien, wenn Armstrong seine Kinder sehen wollte, musste er schon in Texas bleiben.

Diese Konstellation hatte vor allem einen Nachteil: In den USA gibt es kaum Profi-Radrennen von Format. Doch wer die Tour gewinnen will, braucht Vorbereitungsrennen, ohne eine Mindestzahl an Rennkilometern geht es nicht. Also zog sein Manager bei den Sponsoren ein paar Fäden und stampfte eine ansehnliche Profi-Konkurrenz aus dem Boden. Statt in Europa Rundfahrten zu bestreiten, konnte sich Armstrong zu Hause bei der Tour of Georgia die nötige Tour-Härte holen. Seine Haupt-Tour-Rivalen waren allerdings nicht am Start, und so fiel es Armstrong trotz allem ein wenig schwer, sich für das Rennen zu motivieren.

Wenn er nicht an seine Leistungsgrenzen gehen würde, wäre jedoch der Trainingseffekt dahin gewesen – und so ließ sich Armstrongs Alter Ego, der Direktor seines Teams Johan Bruyneel, etwas einfallen. Schon Tage vor dem Start nervte er Armstrong mit einem Namen: Horner. Morgens, mittags, abends bläute Bruyneel Armstrong ein, er solle sich vor Chris Horner in Acht nehmen – einem jungen amerikanischen Rennfahrer bei einer zweitklassigen amerikanischen Mannschaft, der jedoch ein Riesentalent sei. Und siehe da: Kurz vor der Königsetappe der Georgia-Rundfahrt platzte Armstrong der Kragen: „Wer zum Teufel ist denn dieser verdammte Horner“, blaffte er Bruyneel an. „Ich soll auf ihn achten? Der soll heute mal auf mich achten und zuschauen, wie ich das Rennen gewinne.“ Sprach’s – und zermalmte das Teilnehmerfeld.

Kaum jemand kennt Lance Armstrong so gut wie Johan Bruyneel. Ohne Bruyneel, gibt Armstrong zu, hätte er nicht ein einziges Mal die Tour de France gewonnen. Deshalb weiß Bruyneel, was Armstrong braucht. Armstrong braucht den Kampf, er braucht einen Gegner, den er niederringen kann, einen Feind, den er sich unterwerfen kann. „In all den Jahren war Jan Ullrich der Grund, warum ich so hart trainiert habe“, hat Armstrong unlängst gesagt. Und wenn kein Ullrich in Sicht ist, dann schafft er sich einen. Einen wie Chris Horner beispielsweise.

Dieser Durst nach dem Kampf geht bei Lance Armstrong tief. Er breitet sich über sein ganzes Leben – weit über den Sport hinaus. So ist es etwa kaum mehr möglich, über die Gerichtsprozesse, die Armstrong derzeit führt, den Überblick zu behalten. Er prozessiert gegen die Autoren eines Buches in Frankreich, in dem ihm Doping unterstellt wird. Er prozessiert gegen den Verlag des Buches, er prozessiert gegen Zeitungen, die Auszüge abgedruckt haben. Er prozessiert gegen die Versicherungsgesellschaft seiner Mannschaft, weil diese sich wegen des Buches weigert, ihm seinen vertraglich zugesicherten Siegbonus auszuzahlen. Er prozessiert gegen seinen ehemaligen persönlichen Assistenten Mike Anderson, weil dieser eine Abfindung von ihm fordert. Manche behaupten, er möchte Anderson, der Dopingverdächtigungen gegen Armstrong vorgebracht hat, durch den Prozess zum Schweigen bringen. Er prozessiert gegen den italienischen Radprofi Filippo Simeoni, der Armstrong verklagt hat, weil der Boss ihn während der letzten Tour de France mehrfach gemobbt habe. Der Grund hierfür wiederum: Simeoni hatte vor Gericht gegen Armstrongs Trainer Michele Ferrari ausgesagt.

Armstrongs Kampfeslust ist schier unstillbar. Die meisten anderen Radprofis wären nach einem fünften Tour-Sieg zurückgetreten, nur vier Radfahrer außer Armstrong haben überhaupt fünf Mal gesiegt. Der Amerikaner war jedoch selbst nach dem sechsten Mal nicht satt. Auf einem Gruppenfoto mit seinem Team gegen Ende der letzten Tour streckten alle stolz sechs Finger in die Luft. Armstrong hob unbemerkt sieben.

Darüber, was Armstrong antreibt, kann nur spekuliert werden. Armstrong weigerte sich stets, seine Vergangenheit zu reflektieren. Er lebt nach vorne. Sein Biograf Daniel Coyle hat dennoch versucht, ein Psychogramm des Champions zu erstellen. Zusammengefasst lautet es so: Armstrong wuchs als Sohn einer alleinerziehenden Mutter im Armenviertel von Dallas auf. Sein leiblicher Vater wurde von seiner Mutter Linda vor die Tür gesetzt, als Lance noch ein Kleinkind war. Es folgte eine Prozession von Stiefvätern, doch keiner war für das Mutter-Sohn-Duo gut genug. Armstrong wuchs damit auf, Vaterfiguren abzulehnen: „Du bist nicht mein Vater, du bist nicht mein Vater und du auch nicht“, ist Armstrongs Mantra. Er kann keine Autorität akzeptieren – und das überträgt sich auf seinen Sport: Armstrong kann nicht verlieren, er hat panische Angst davor. Diese Angst wiederum münzt er in einen unbeugsamen Siegeswillen um und in die Motivation, mehr für den Sieg zu tun als irgendjemand sonst.

Dennoch hat Armstrong sich dazu entschlossen, jetzt, nach seinem siebten Tour-Sieg, seine Karriere als Sportler zu beenden. Seine Kriegernatur wird sich ein anderes Betätigungsfeld suchen müssen. Seine Krebshilfestiftung, die sich durch Armstrongs Popularität zur größten Krebsforschungs- und -beratungseinrichtung des Landes aufgeschwungen hat, wird ihn zwar beschäftigen, aber kaum seinen Kampfesdurst stillen. Seine beginnende Karriere als Fernsehmoderator bei seinem Sponsor Discovery Channel weckt da schon eher seinen Ehrgeiz. „Lance ist ziemlich gut vor der Kamera“, sagt sein Manager Bill Stapleton. „Aber er arbeitet daran, perfekt zu sein.“

Weiter kämpfen kann er auch innerhalb des Radsports. Er ist Miteigner seiner Mannschaft, die er zusammen mit Bruyneel aufgebaut hat, und er trifft ohnehin schon sämtliche Entscheidungen gemeinsam mit Bruyneel. Bill Stapleton glaubt, dass er sich jetzt noch mehr in die Leitung einmischen wird. Armstrong will sichergehen, dass die Tour de France in der Hand des Teams bleibt, das er zur erfolgreichsten Rad-Equipe aller Zeiten gemacht hat. Armstrong will hinter den Kulissen weiter Radrennen gewinnen.

Langfristig, glaubt sein Biograf Coyle, wird sich Armstrong allerdings ein neues Betätigungsfeld suchen. „Er wäre ein idealer Politiker“, glaubt Coyle. „Er könnte weiter kämpfen und es ginge, wie im Radsport, immer um einen großen Jackpot.“ Wenn Armstrong tatsächlich in die Politik geht und sie so betreibt wie den Radsport, wird er indes nicht Halt machen, bevor er ganz oben ist. Ein Sportler als Präsidentschaftskandidat wäre zwar neu. Doch das war der erste Tour-Sieg eines ehemaligen Krebspatienten auch. Vom siebten Tour-Sieg eines Radprofis ganz zu schweigen.