Berlin viral: Schule im Herbst, Chance verpasst
Mitte der 1990er Jahre besuchte ich einen Freund, der an der Universität Tbilissi als Lektor arbeitete. Es war ein kalter Februar. Und Georgien hatte eine Energiekrise. Strom und Warmwasser gab es nur stundenweise, Heizung gar nicht. Das hieß: waschen, wenn Wasser da war, zum Schlafen warm anziehen. In der Hochschule saßen die Studierenden mit Winterjacken. Es war fast surreal.
An diese Reise musste ich denken, als ich vor den Herbstferien eine Mail von der Schule meines Sohns bekam. „Mit sinkenden Temperaturen (und steigenden Infektionszahlen) müssen wir uns darüber verständigen, wie wir mit dem bisher selbstverständlichen permanenten Lüften weiter umgehen“, schreibt der Klassenlehrer. Es gebe Lüftungsanweisungen im Hygieneplan, und bislang seien auf Wunsch der Klasse „die Fenster permanent geöffnet.“ Nun werde es aber Herbst. Und: „Egal mit welcher Lüftungsstrategie, es wird kalt werden. Das Temperaturempfinden der SchülerInnen ist zudem sehr unterschiedlich. Einige SchülerInnen haben sich, in Anlehnung an Straßencafé-Gemütlichkeit bereits Fleecedecken mitgebracht, die in Jutebeuteln an den Garderobenhaken im Klassenraum lagerbar sind. Generell brauchen die Kinder wahrscheinlich mehr Zwischenjacken als normalerweise. Jacken, Mützen, Schals, Thermoskannen, Decken.“
Schon vor den Sommerferien war man fassungslos, wie unflexibel sich das Schulsystem in Bezug auf die Pandemie zeigte. Jetzt sind alle wieder zurück in ihren Schulen mit täglich acht Stunden Präsenzunterricht und überfüllten Klassen. Denn es wird ja gelüftet. Das konnte man sich im Sommer als Lösung schönreden. Spätestens mit Herbstbeginn wird es zur Farce. Nicht nur weil in vielen Schulen die Fenster gar nicht aufgehen, sondern schlicht wegen der niedrigen Temperaturen.
Wir wissen mittlerweile alle, dass die Corona-Schulpolitik versagt hat in Deutschland. Und zwar nicht, weil Lehrkräfte zu faul oder Schulleitungen nicht engagiert genug sind und alle Schulen zu wenig Computer haben. Sondern weil es mehr braucht als ein paar Tablets und offene Fenster. Man hätte in diesem Jahr die Chance zur großen Schulreform gehabt. Leider hat man sie nicht genutzt. Jetzt sind zum Glück erst mal Herbstferien. Und anschließend gibt es drei Probetage „Homeschooling“. Von morgens acht bis nachmittags um drei, so erklärte mir mein Sohn, sitzen die Kinder dann in Videokonferenzen. Damit entfällt der einzige echte Vorteil des Lernens zu Hause, nämlich sich Zeit und Lernstoff selbst einteilen zu können. Und auch erkennbare technische Fortschritte sind nicht in Sicht.
Jüngstes Beispiel: Für die Videokonferenzen mussten wir Eltern schriftlich einwilligen. Per Mail erfuhren wir, dass das dazu benötigte Formular auf der digitalen Lernplattform zu finden sei. Die war über den Sommer umgestaltet worden. Ich brauchte lange zehn Minuten, bis ich das Formular zufällig fand. Dann musste ich es ausdrucken, per Hand ausfüllen, einscannen und wieder hochladen. Von „digital“ sind wir noch Lichtjahre entfernt.
Der Brief zum Thema Lüften endete übrigens mit den Worten: „Lassen Sie uns zu dem Thema alle im Gespräch bleiben, damit Schule möglichst lang ‚normal‘ weiter funktionieren kann.“ Wollen wir das wirklich? Gaby Coldewey
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