Die Menschmaschine

WUNDERKIND Nicht nur die Fachwelt staunt über Ye Shiwen, 16-jährige Schwimmerin aus China. Über die 400 Lagen kraulte sie die letzten 50 Meter des Finalrennens schneller als US-Crack Ryan Lochte auf der gleichen Strecke bei den Männern. Geht da wirklich alles mit sportlich rechten Dingen zu?

1988, Greg Louganis: Keine halbe Stunde war nach seinem Unfall vergangen, da stieg Greg Louganis erneut auf den 3-Meter-Turm. In der Rückwärtsdrehung war der Goldfavorit mit dem Hinterkopf aufs Brett geknallt, nun gelang ihm sein bester Sprung der Spiele und die Qualifikation fürs Olympiafinale. Während Louganis des Sports wegen für die Zuschauer in den Olymp aufstieg, war es für ihn der Moment, der ihn zur „härtesten Sissy der Welt“ machte. Sissy? Diese Selbsteinschätzung behielt der später erst offen schwule Athlet 1988 allerdings lieber für sich. Jenen Kampf wollte Louganis, der es wegen seiner dunklen Hautfarbe schwer genug hatte, nicht auch noch führen. Das Wasserspringen, das ihn zum Nationalhelden gemacht hatte, konnte er sich nicht nehmen lassen, weder durch ein Outing noch durch eine positive HIV-Diagnose. Im Finale von Seoul errang er sein viertes olympisches Gold. Und auch die Infektionskrankheit hat Louganis, nun als Juror beim Klippenspringen arbeitet, nicht gebrochen. Und so wird er heute genau hinsehen beim Synchronspringen der Männer vom 10-Meter-Turm (Finale: 16 Uhr). ERIK PETER

AUS LONDON ANDREAS RÜTTENAUER

Es war der Tag der Menschwerdung einer Maschine. Michael Phelps kann doch verlieren bei Olympischen Spielen. Das ist eine neue Erkenntnis nach den 14 Goldmedaillen, die er in Athen und Peking gewonnen hat. Er konnte einfach nicht mithalten mit seinem Landsmann Ryan Lochte, der sich am Ende auch gewundert hat, dass Phelps nicht mal auf dem Podium stand. Über 400 Meter Lagen gewann Lochte in 4:05,18 Minuten vor dem Brasilianer Thiago Pereira und Kosuke Hagino aus Japan. „Er ist eben auch nur ein Mensch“, meinte Lochte über den geschlagenen Landsmann, der nach dem Rennen ratlos und mit offenem Mund vor der Presse stand, dem keine Ausrede einfallen wollte, der einfach nur sagte, wie „frustrierend“ das alles ist.

Und während Lochte noch nach Erklärungen für den Absturz seines Rivalen suchte und davon redete, wie schwer doch die lange Lagendistanz sei, da hatten alle Zeugen dieses denkwürdigen Abends noch das Bild im Kopf, wie die junge chinesische Schwimmerin Ye Shiwen aus Hangzhou im Wettbewerb über dieselbe Strecke auf den letzten 50 Metern so geschwommen ist, wie noch keine Frau, wie beinahe kein Mensch vor ihr. Die letzte Bahn ihres olympischen Weltrekordrennens (28,93 Sekunden) ist sie schneller geschwommen, als Ryan Lochte bei seinem Olympiasieg (29,10). Im Schwimmsport ist eine neue Maschine mit menschlichen Antlitz unterwegs.

Sie ist 16 Jahre alt, ein Mädchen. Bei der Schwimm-WM im vergangenen Jahr in Schanghai durfte sie schon einmal ihre Mädchenfreude zeigen, nachdem sie über 200 Meter Lagen gewonnen hatte. Nach dem Rennen von London wusste sie nicht so recht, was sie sagen sollte. Allzu oft ist sie der ganz großen Öffentlichkeit noch nicht vorgeführt worden. „Glücklich, glücklich, glücklich, ich bin sehr glücklich“, viel mehr sagte die neue Vorschwimmerin zunächst nicht. Das Glück sei ihr gegönnt. Es ist sicher kein Spaß, in China zur Leistungsschwimmerin ausgebildet zu werden, auch wenn Ye versichert hat, dass sie nicht wie ein Roboter trainieren würde, dass das Training sehr wissenschaftlich sei und dass von ihr noch bessere Zeiten zu erwarten seien. Sie sei ja noch so jung. Noch besser? Wird sie bei den nächsten Olympischen Spielen dann im ersten großen Kampf der Geschlechter im Becken gegen Ryan Lochte um den Titel schwimmen?

Dass sie auf den abschließenden 100 Metern Freistil bis auf drei Hundertstel genauso schnell war wie Lochte, scheint sie selbst nicht zu wundern. „Ich habe viel trainiert“, weckt aber doch Erinnerungen an die erste große chinesische Schwimmstaffel der Frauen. Deren medaillenreiche Zeit war 1998 nach einer Polizeirazzia beendet worden. Bei der Einreise nach Australien, wo sie an der Schwimm-WM teilnehmen wollte, ist sie vom Zoll mit einer ganzen Tasche voller Dopingmittel ertappt worden. Das Geheimnis der chinesischen Schwimmerfolge jener Jahre war gelüftet, Mehr als viierzig chinesische Schwimmerinnen und Schwimmer wurden in den darauf folgenden anderthalb Jahren wegen Dopings gesperrt.

Damit hat Ye Shiwen gewiss nichts zu tun. Doch nach ihrer unglaublichen Leistung vom Samstagabend muss sie sich über Fragen nach dem Zustandekommen ihrer Leistung nicht wundern. Dass das Doping aus dem chinesischen Leistungsschwimmen seit der Jahrtausendwende nicht verschwunden ist, das zeigt die Sperre von Li Zhe, die mit der 4-x-100-Meter-Freistilstaffel 2009 in Rom Weltmeisterin geworden ist. Sie wurde im März dieses Jahres mit Epo im Urin erwischt.

Der Gewinner des zweiten chinesischen Schwimmgolds an diesem Abend, Sun Yang, der Sieger über 400 Meter Freistil, die Distanz, über die der Weltrekordhalter Paul Biedermann die Finalqualifikation verpasst hat, musste sich dagegen keine unangenehmen Fragen anhören. Die Muskeln von Sun Yang werden ja auch nicht in einem chinesischen Sportlabor geformt, sondern in Australien, beim Trainer des legendären Langstrecklers Grant Hackett. Dem hat Sun bei der Weltmeisterschaft 2011 in Schanghai den Weltrekord über 1.500 Meter abgenommen, indem er die letzten 100 Meter in 54 Sekunden geschwommen ist, was vielen begabten Schwimmern nicht einmal vom Startblock aus gelingt.

Die Schwimmwelt, sie bleibt rätselhaft, auch wenn sie für Ryan Lochte, der nun nach seinem Auftaktsieg zum besten Schwimmer aller Zeiten aufsteigen will, einfacher nicht sein könnte. „Ich wollte immer nur eines im Leben“, hat er am Samstag gesagt: „Spaß – und Schwimmen bringt mir den Spaß.“