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Warum liest keiner Aischylos?

Die Volksbühne und das Berliner Ensemble haben jeweils eine junge Regisseurin auf die antike Rächerin angesetzt – herausgekommen sind zwei Horrortrips, ein wortreich feministischer und ein stummer

Von Barbara Behrendt

Zwei „Elektra“-Premieren in sieben Tagen an zwei großen Berliner Häusern, inszeniert von zwei jungen Regisseurinnen – ist das eine Themenwoche oder einfach schlecht geplant? Dritte Möglichkeit: Eine neue Frauenregie-Generation arbeitet sich an der antiken Rächerin ab – wie das bereits viele Autoren taten, allerdings alles Männer: Aischylos, Sophokles, Hofmannsthal, Sartre, Hauptmann, O’Neill.

Bei den alten Griechen ist Elektra eine archaische Figur, mehr Prinzip als psychologisch verstehbar. Furiose Rächerin, die ihre Mutter töten lässt, weil die ihren Ehemann, Elektras Vater, umgebracht hat. 20 Jahre lang wartet Elektra auf die Rückkehr ihres Bruders, bis der endlich den Vater-Mord rächt. Hofmannsthal und O’Neill legen 2.400 Jahre später Freuds Koordinaten der Psychoanalyse an und mären sich über inzestuöse Verstrickungen und ödipale Komplexe aus. Elektra auf der Couch – bei O’Neill tragen die Figuren ihre Motive wie in der Gesprächstherapie auf der Zunge.

„Mourning becomes Electra“ – „Trauer muss Elektra tragen“ – heißt seine Bearbeitung: Elektra wird zur in Trauer und Trauma versteinerten Tochter. Verlegt hat O’Neill das Drama nach New England um das Jahr 1865. General Eszra Mannon kehrt aus dem Bürgerkrieg zurück und findet eine eiskalte Ehefrau vor, die ausgerechnet ein Verhältnis mit Kapitän Brant hat – dem verstoßenen Cousin der Familie, in den Tochter Lavinia verliebt ist.

„Mourning becomes Electra“ heißt auch Pinar Karabuluts Volksbühnen-Inszenierung. Auf einer großen Leinwand wird der Titel eingespielt, dazu gleitet ein Volvo auf der Landstraße durch goldene Felder. Eine „Landarzt“-Folge? Kurz darauf eher „Verbotene Liebe“, wenn sich Mutter Christine, die verführerische Geschäftsfrau, und Lavinia, ein rotschopfiger Teenager mit Schulmädchen-Charme, um Kapitän Brant streiten.

Dann beginnt der Gruselschocker: Christine steht neben ihrem aufgebahrten Sohn. Der schlägt plötzlich die Augen auf und zieht sie zu sich, bis das Totenbett sie ganz verschluckt. Lavinia spießt Voodoo-Puppen auf, isst die Innereien ihres Bruders – Bilder wie aus einem Splattermovie der B-Klasse. Ironische Einblicke ins Unterbewusstsein, die 50 Minuten lang perfekt produziert über die Leinwand ziehen, bevor die erste Schauspielerin die Bühne betritt.

Ein blaues Haus liegt dort auf seinem Dach. Davor liefern sich Paula Kober als Lavinia und Sabine Waibel als Christine ihre Zicken-Fights. ­Lavinia ist der Inbegriff des Triebhaften, Dämonischen, aber auch der weiblichen Selbstermächtigung. Das geht so weit, dass sie ihren Bruder abschlachtet, als der nach seiner Mama schreit. Ein milderer Angang hätte bei der radikalfeministischen Regisseurin auch verwundert. Lavinias letzte Worte vor dem Applaus: „I’m a free bitch, baby!“

Karabulut inszeniert mit Spaß an der detailgenauen Ausstattung: die Blusen, Blazer, Tüllkleider in pink und giftgrün, die an die bunten 1970er erinnern. Die Porzellankätzchen und Schaummäuse, denen Christine genüsslich den Kopf abbeißt – böse komisch und höchst unterhaltsam.

Doch das Assoziationskarussell dreht im Lauf von fast drei Stunden schließlich hohl – spätestens, wenn Malick Bauer aus seiner Rolle des Kapitäns tritt und einen Monolog über die Stigmatisierung schwarzer Schauspieler anstimmt, wird’s zum Ideen-Potpourri.

Was Karabulut an Gedanken-Explosion zu viel hat, hat Rieke Süßkows „Elektra“-Abend am Berliner Ensemble zu wenig. Auch ihrer Inszenierung liegt, so liest man, O’Neill zu Grunde, zudem Sophokles und Hofmannsthal. Fraglich aber, ob die Probanden eines Blindversuchs überhaupt erraten würden, welches Drama gespielt wird.

Wir hängen im Mythos fest, Traumata werden wiederholt bis in alle Ewigkeit – das soll uns das Bilderbuch-Gruselmärchen sagen

Formstark ist der Abend allemal. Marlene Lockemann hat die Bühne als gigantisches Pop-up-Bilderbuch gestaltet. Wenn sich die Pappwände wie Buchseiten auseinanderschieben, klappt ein neuer Raum auf: ein Wohnzimmer mit dreidimensionalen Pappstühlen, ein Badezimmer mit in den Raum ragender Wanne, am Ende züngelt ein Schlangenkopf aus den Seiten hervor. Süßkow bleibt der Bilderbuch-Idee auch inhaltlich treu: Text gibt es keinen. Dafür gruselige Stummfilmmusik, die jede Geste einer Figur mit einem Geigen-Zupf oder -Streich begleitet. Die sechs Spielerinnen und Spieler mit quietschgelbem Haar, weiß geschminkten Gesichtern und überdimensionierten Schulterpolstern wackeln wie Horror-Pappkameraden mit eckigen Schritten und Zombie-Gesten stumm, aber mit aufgerissenem Schreimund umher – und wirken schrecklich harmlos.

Die Pantomime kann nur deuten, wer sich auskennt. Klar wird höchstens, dass es viel Streit zu Hause mit den Kindern gibt. Als Papa mal kurz weggeht (von Krieg keine Spur), kommt ein anderer Mann, der sich seltsamerweise verhält wie ein Einbrecher. Mama hackt auf den zurückgekehrten Papa in der Badewanne ein. Was dann mit der Mama und der Schlange passiert und warum der Bruder weg ist – schwer zu sagen. Am Ende steht die Tochter, wie zu Beginn, allein zwischen den Seiten und besieht erschrocken ihre Hände.

Selbst, wer alles versteht: Es zeigt sich, dass Sprache im Theater keine so schlechte Idee ist, denn der Erkenntnisgewinn dieses Gebärdenspiels bleibt gering. Wir hängen im Mythos fest, Traumata werden wiederholt bis in alle Ewigkeit, soll uns das Bilderbuch-Gruselmärchen sagen.

Erstaunlich, dass keine der Regisseurinnen bei Aischylos, dem ältesten Elektra-Dichter, nachgeschlagen hat. Der hatte vor fast 2.500 Jahren eine kluge Idee: Statt der ewigen Rache erfand er für das Ende seiner „Orestie“ ein Bürgergericht, das über die Schuld der Mörder bestimmen soll: Der Beginn der Demokratie. Aber die scheint als Lösungsmodell derzeit nicht hoch im Kurs zu stehen.

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