Todesschüsse im U-Bahn-Zug

Zivilfahnder töten in London mutmaßlichen Terroristen direkt vor den Augen der Fahrgäste. Presse: Polizei hatte Hinweise auf Anschläge

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

Die britische Polizei hat gestern Vormittag einen Mann erschossen, der laut Angaben des Fernsehsenders Sky an den Attentaten vom Donnerstag beteiligt sein soll. Der Mann floh vor Zivilbeamten in den U-Bahnhof Stockwell im Südwesten Londons, sprang über die Barriere und rannte in einen Zug der Northern Line, der gerade abfahren wollte.

„Es war ungefähr um zehn Uhr“, sagte Augenzeuge Mark Whitby, der auf dem Weg zur Arbeit war. „Ich saß in der U-Bahn und las Zeitung, als Leute plötzlich riefen, wir sollen uns auf den Boden werfen. Im nächsten Augenblick stürmte ein Mann herein. Er wurde von drei in Zivil gekleideten Polizisten verfolgt. Der Mann stolperte, zwei der Polizisten drückten ihn zu Boden, und der dritte feuerte mit einer halbautomatischen Waffe in seiner linken Hand fünf Schüsse in den Mann.“ Whitby war keine vier Meter vom Geschehen entfernt. Er beschrieb den Mann als „asiatisch, möglicherweise pakistanisch“. Er habe eine Baseballmütze und eine „für die warmen Temperaturen ungewöhnlich dicke, wattierte Jacke“ getragen.

Whitby schilderte, dass im U-Bahnhof Panik ausbrach. Menschen rannten in gebückter Position zum Ausgang und hielten dabei die Hände vor den Kopf, um sich vor Kugeln zu schützen. Der Bahnhof Stockwell wurde evakuiert, der Verkehr auf zwei Linien eingestellt. Den ganzen Tag über wurden Streckenabschnitte gesperrt, weil verdächtige Taschen gemeldet worden waren, und wieder eröffnet, nachdem sie sich als harmlos entpuppt hatten.

Auf einer Pressekonferenz wollte Londons Polizeichef, Ian Blair, gestern nicht bestätigen, dass es sich bei dem Erschossenen um einen der Attentäter vom Vortag handelt. Er sagte nur, dass der Vorfall in Stockwell in direkter Verbindung mit einer antiterroristischen Operation vor Ort stand. Der Mann habe sich der Aufforderung zur Personenkontrolle verweigert und sei davongerannt. Weiter teilte Blair mit, dass während der Konferenz gerade ein Haus in Westlondon nach Sprengstoff durchsucht werde und zwei weitere Adressen Zielorte von Polizeiaktionen seien.

Bei den Anschlägen auf drei U-Bahnen und einen Bus waren am Donnerstag lediglich die Zünder explodiert, sodass es keine Opfer gab. Andy Hayman von den Spezialeinsatzkräften der Londoner Polizei präsentierte der Öffentlichkeit vier Bilder von Überwachungskameras, die die vier Attentäter zeigen, und forderte die Öffentlichkeit auf, jede Information zu den Tätern an die Behörden weiterzugeben. Inzwischen haben sich die Abu-Hafs-al-Masri-Brigaden, eine al-Qaida nahe stehende Organisation, zu den Anschlägen bekannt, doch niemand weiß, wie authentisch das ist. Die Polizei hatte nach einem Hinweis mit den Anschlägen am Donnerstag gerechnet, behauptet der Daily Mirror. Deshalb seien seit dem frühen Morgen zahlreiche bewaffnete Zivilbeamte und Polizisten mit Spürhunden in der U-Bahn unterwegs gewesen. „Wir wussten, dass es geschehen würde, und wenn es geschähe, dann am Donnerstag“, zitierte der Mirror eine Sicherheitsbehörde.

Es waren offenbar Selbstmordanschläge, die die vier Terroristen geplant hatten. In einem Fall habe sich der Attentäter „wie Jesus Christus“ mit ausgebreiteten Armen auf seinen Rucksack gelegt, sagt Abisha Moyo, der in der U-Bahn bei Shepherd’s Bush saß. Als der Zünder mit lautem Knall explodierte, sei der Mann weggelaufen.

Die Polizei teilte mit, dass drei der Bomben von ähnlicher Größe waren wie bei den Anschlägen zwei Wochen zuvor, als 56 Menschen ums Leben kamen. Warum keine der vier Bomben explodierte, ist unklar. David Hill, ein Sicherheitsexperte, spekulierte, dass die Attentäter entweder eine falsche Mischung benutzten oder das Material alt und wirkungslos war. „Die Anschläge vom 7. Juli waren von langer Hand bis ins Detail geplant“, sagte Hill. „Diesmal hatten es die Attentäter eilig. Vielleicht fehlte ihnen auch die chemische Expertise.“ Die Polizei gab bisher nicht bekannt, ob beide Attentätergruppen miteinander in Verbindung standen.

Die Polizei verlangte gestern weitgehende Vollmachten. So sollen Verdächtige künftig drei Monate ohne Anklage festgehalten werden dürfen statt wie bisher lediglich zwei Wochen. Außerdem will man neue Gesetze, um gegen Internetseiten vorgehen zu können, auf denen zu Gewalttaten aufgerufen wird. Insgesamt legten die Beamten Premier Tony Blair einen Wunschzettel von elf Punkten vor. Blair sagte, er werde „eventuelle Lücken im Gesetz“ untersuchen und gegebenenfalls schließen.