: Etwas liegt in der Luft
Von Sebastian Wells (Fotos) und Julia Boek (Text)
Die Männer am Tisch sitzen aufrecht. Sie tragen Jacketts und die Haare grau, ihre Hände ruhen neben den aufgereihten Dominosteinen auf der Tischplatte. Alle haben sie früher in einer der vielen Erdölraffinerien, hier in der Bucht von Augusta im Südosten Siziliens, gearbeitet. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie an der Wand über ihnen zeigt einen Pulk streikender Männer. Oder ist es ein feierlicher Umzug anlässlich der Eröffnung der ersten Erdölraffinerie, damals im Jahr 1949?
Auch heute noch reihen sich Raffinerien, Chemiefabriken, Kraftwerke und Industriegasanlagen auf dem dreißig Kilometer langen Küstenstreifen im äußersten Süden Italiens aneinander. Bedrohlich, fast apokalyptisch wirkt die petrochemische Industrielandschaft aus qualmenden Schloten, verknoteten Metallrohren und riesigen blechernen Kesseln am äußersten Ende Europas. Man sieht hier, der Kontinent ist auf Erdölimporte angewiesen.
Fotografiert hat Sebastian Wells, jüngstes Mitglied der Ostkreuz Agentur der Fotografen, die Serie „La Rada di Augusta“ (Die Bucht von Augusta) seit 2019. Derzeit wird sie in der Gruppenausstellung „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ in der Akademie der Künste Berlin gezeigt. Für einen Zeitraum von anderthalb Jahren begleitete Wells die InselbewohnerInnen: beim Mittagessen in der Fabrikkantine, beim Feiern, am Strand, in der Kirche und sogar bei Beerdigungen.
Er habe versucht zu verstehen, wie die BewohnerInnen der Region das hoch industrielle Erbe bewältigten, sagt Wells über seine Fotografie. Arbeiteten in den 1980er Jahren 20.000 Menschen in den Raffinerien, sind es heute nur noch 7.000. Über Jahrzehnte haben giftige Industrieabfälle wie Asbest, Blei, Benzol Boden, Luft und Wasser verseucht. Zeitweise war die Quecksilberkonzentration in den Buchten des Mittelmeers so hoch, dass sich das Wasser rot färbte. Und so hat fast jede Familie in der Umgebung der Städte Augusta, Syrakus, Melilli und Priolo einen Krebtstoten zu beklagen, die Fehl- und Missgeburtenrate ist doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Trotzdem ist die Petrochemie der Arbeitgeber der Region schlechthin, es gilt die Devise: „Besser an Krebs sterben als verhungern.“
Wie aber gelingt es den Menschen, diese Bürde zu tragen? Die Industrielandschaften und porträtierten Gesichter auf den Fotografien von Sebastian Wells hinterlassen eine Ahnung. Hier wird geschwiegen und doch erzählt. Hier liegt etwas in der Luft, nicht greifbar, aber zu spüren.
Über den Zustand des Kontinents Europa sagt Sebastian Wells, er befinde sich noch in der Pubertät. So wie die junge Sizilianerin Helena, die Wells auf dem 18. Geburtstag ihres Freundes fotografiert hat. Lässig, wie nur Teenager auf Gartenstühlen Platz nehmen können, sitzt die junge Frau im künstlichen Licht einer Spätsommernacht. Ihr Blick geht nach innen. Oder doch ins Leere?
Die Ausstellung „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“ von der Ostkreuz – Agentur der Fotografen und der Akademie der Künste läuft bis zum 10. Januar am Pariser Platz 4, Berlin. Außerdem gibt es einen Podcast.
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