Vom Meister zum Tyrannen

Aus den Tour-de-France-Seriensiegern Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernhard Hinault, Miguel Indurain und Lance Armstrong besteht das Pantheon des Radsports. Versuch einer Einordnung

VON SEBASTIAN MOLL

Prolog

Bevor er sich anderen Dingen wie der Fotografie, der japanischen Schriftkultur oder der Liebe zuwandte, war der poetischste der nachexistenzialistischen französischen Philosophen, Roland Barthes, von den Mythologien des Alltagslebens fasziniert. Eines der mythologischen Systeme, das Barthes am meisten faszinierte, war die Tour de France. Die Tour, so schrieb Barthes in einem Aufsatz von 1955, gleiche in ihrer Erzählstruktur antiken Heldensagen. Und aus dieser uralten Art und Weise, Geschichten zu erzählen und zu verweben, beziehe sie ihren unwiderstehlichen Reiz. Unverzichtbare Zutat des Epos ist es laut Barthes, dass die Protagonisten nicht nur sich selbst verkörpern, sondern Essenzen – bestimmte ewige Eigenschaften. Die Tour, schreibt Barthes, sei nicht bloß ein Rennen zwischen Sportlern, sondern „ein ungewisser Konflikt zwischen gewissen Essenzen, […] die sich wie Atome streifen, sich verklammern, sich gegenseitig abstoßen. Und aus diesem Spiel entsteht das Epos.“ So begann Barthes mit einem Katalog der Tourhelden und der ihnen zugehörigen Essenzen. Er nannte etwa Fausto Coppi, „den vollkommenen Held, der auf dem Rad alle Tugenden besitzt“; er nannte Hugo Koblet, den „Pedaleur du Charme“, der sich alles erlauben kann; und Charly Gaul, einen „sorglosen Epheben und genialen Jüngling“. Als die Ära der Fünffachsieger 1957 mit Jacques Anquetil anbrach, hatte Barthes sich leider anderen Dingen zugewandt. Aus den Seriensiegern Anquetil, Eddy Merckx, Bernhard Hinault, Miguel Indurain und Lance Armstrong besteht jedoch heute das Pantheon des Radsports. Grund für einen Versuch, Barthes’ Lexikon auf diese Helden auszuweiten.

Le Maître

Jacques Anquetil (Sieger 57 und 61 bis 64) nannten sie den „Maître“. Er war begnadet, ihm fiel alles leicht. Scheinbar ohne in Schweiß zu geraten, hängte der stolze Normanne seine Konkurrenten ab, allen voran den Bauernsohn Raymond Poulidor – im Gegensatz zum Playboy und Lebemann Anquetil einer, der sich die Finger schmutzig machte. Zur Anquetil-Mythologie gehört es, dass seine Genusssucht und seine Arroganz ihn beinahe zu Fall gebracht hätten. Am Ruhetag der Tour 1964 labte er sich so ausgiebig an Champagner und Austern, dass er sich am nächsten Tag vor Übelkeit kaum im Sattel halten konnte. Mit Mühe und Not rettete er einen dünnen Vorsprung von 14 Sekunden gegen seinen Widersacher.

Der Kannibale

Eddy Merckx (Sieger 69 bis 72 sowie 74). Sein Heldenname war „der Kannibale“ – der Mann aus Antwerpen gönnte nichts und niemandem auch nur eine Reifenbreite Landstraße. Er musste jedes Kirmes- und jedes Sechstagerennen gewinnen und jede Etappe der Tour, gleich wie groß sein Vorsprung war. Die Anzahl der Tage, die Merckx in Gelb fuhr (96), bleibt auch vom Siebenfachsieger Armstrong unerreicht. Wie Armstrong das Trikot strategisch herzugeben, um Kräfte zu schonen, wäre Merckx nie in den Sinn gekommen. Am Ende seiner Karriere fiel er seiner Gefräßigkeit zum Opfer: Viel zu jung war er körperlich und seelisch ausgebrannt.

Der Dachs

Bernhard Hinault (Sieger 78, 79, 81, 82, 85) wurde „Der Dachs aus der Bretagne“ genannt, und das nicht nur, weil sein gedrungener Körperbau und seine kurzen Beine an das Nagetier erinnerten. Dachse markieren ihr Revier mit einem strengen Duft. Hinault war kein Überflieger wie Anquetil oder Merckx, er erarbeitete sich seine Siege hart und musste sich immer wieder aufs Neue behaupten. Bis zu seinem Karriereende musste er seinen Status als Patron der Tour mit Zähnen und Klauen verteidigen und tat dies mit unerbittlicher Härte. Wenn ein junger ahnungsloser Fahrer es etwa wagte, zu attackieren, stellte Hinault ihn persönlich, wies ihn zurecht und machte ihm seinen Platz in der Tourhierarchie klar. Zuletzt musste er in seiner eigenen Mannschaft sein Revier gegen den Amerikaner Greg Lemond verteidigen. Ein unnachgiebiger Kampf, der sich über zwei Touren erstreckte und den Hinault letztlich verlor.

Der König

Miguel Indurain (erster Seriensieger von 91 bis 95) ist als „El Rey“ in die Tourmythologie eingegangen. Den Mann aus Navarra umgab eine majestätische Aura, eine natürliche Autorität. Seine Fahrweise war anmutig, sein Auftritt würdevoll. Er redete nur das Nötigste und gewann mit Stil. Die Zeitfahren dominierte er durch die elegante Ökonomie seines Tritts. In den Bergen attackierte er nie, er demoralisierte stattdessen seine Konkurrenten, in dem er, ohne eine Miene zu verziehen, einfach immer schneller fuhr. Nur ein einziges Mal sah man eine schmerzverzerrte Grimasse auf dem Antlitz des Königs – als er 1996 nicht mehr mit dem späteren Toursieger Bjarne Riis mithalten konnte. Er fuhr die Tour noch zu Ende, stieg jedoch kurz danach endgültig vom Rad. Ein langes Aufbäumen gegen das Unvermeidliche wie bei Hinault oder Merckx kam für den baskischen Radaristokraten nicht in Frage.

Der Tyrann

Und Lance Armstrong? Wie wird wohl sein Eintrag in die Geschichte der Tourmythologie lauten? Der französische Exprofi und Mannschaftsdirektor bei Cofidis, Eric Boyer, mäkelte erst gestern an Armstrong herum, dieser sei gar kein wahrer Champion: „Große Rennfahrer wie Hinault und Indurain, die haben einen zum Träumen gebracht. Armstrong bringt einen nicht zum Träumen. Da kommt nichts rüber.“ Armstrong hat sich die Tour unterworfen, die Vorbereitung und die Taktik verwissenschaftlicht und systematisiert. Er hat das vormals große Abenteuer zum Rechenexempel degradiert. In Frankreich empfindet man ihn als einen Tyrannen, man ist froh, dass er nun aufhört. Man hofft, dass die Tour nach Armstrong wieder in ihren mythologischen Urzustand zurückversetzt wird, dass sie wieder zuvorderst eine Quelle von Legenden und Dramen wird. Frankreich möchte die Tour dem entzaubernden Würgegriff des Amerikaners entreißen.

Epilog

Am schlimmsten wäre da wohl die Entdeckung, dass Armstrong nur ein Vorreiter seiner Zeit ist – und dass die Tour also auch nach seiner Herrschaft ein Wettkampf der Sportmediziner, Biotechniker und Planungsstrategen bleibt und eben nicht mehr der epischen Helden. Ivan Basso, Armstrongs designierter Nachfolger, ist etwa dem Labor sehr zugetan – er lässt seine Aerodynamik am Massachusetts Institute of Technology in Boston verbessern. Und bei der TV-Übertragung in diesem Jahr wurden erstmals Pulswerte der Akteure eingeblendet. Bestimmt wird es bald ein Tour de France-Computerspiel geben, das viel actionreicher ist als die stundenlangen Übertragungen. Vielleicht wird man sich dann nach dem Zeitalter zurücksehnen, in dem Lance Armstrong zumindest bei einer handvoll Etappen litt und seine ganze Willenskraft aufbieten musste, um seine Angreifer in Schach zu halten.