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Im Land der halben Häuser

Mit der Ausstellung „Different States“ dokumentieren Studierende ihre Forschungsreise nach Sarajevo

Mehr als 25 Jahre nach dem Bosnienkrieg lassen junge Foto- künstler:innen die Mauern Sarajevos sprechen Foto: Ran Tao

Von Jan-Paul Koopmann

Die Atemmaske irritiert ganz anders als sie sollte. Es ist eine teure mit Ventil, die passgenau am Knabengesicht sitzt, in ihrem satten Blau akurat abgestimmt auf die leuchtend gelbe Öljacke darunter. Mit westlichem Wohlstandsblick mag man kurz staunen, wie Design und Krise sich auch in Sarajevo längst arrangiert haben, aber das ist eine doppelt falsche Fährte: Auch in Bosnien und Herzegowina sind nicht alle arm – und das Foto entstand 2019 und hat schon darum mit Corona nichts zu tun.

Das Foto ist von Alem Kolbus, die mit einer Exkursion des Masterstudios „Kultur und Identität“ der Bremer Hochschule für Künste nach Sarajevo gereist ist. Die insgesamt neun Studierenden sind dort je eigenen Fragen nachgegangen, in Kolbus’ Fall: dem Leben mit extre­mer Luftverschmutzung. In der Ausstellung „Different States / Photography and Graphics in Sarajevo, Bosnia and Herzegovina“ ist, neben dem maskierten Kind, der notdürftig mit Plane verkleidete Balkon eines heruntergekommenen Plattenbaus zu sehen; ein notdürftiger Versuch, die vergiftete Luft draußen zu halten. Da hat sich also doch die Armut in den urbanen Lebensraum eingeschrieben. Das reicht bis zur Architektur halber Häuser, die immer wieder zu sehen sind. Manche sind nach einem Vierteljahrhundert noch immer vom Bosnienkrieg gezeichnet, tragen Einschusslöcher in den Wänden, wurden nie wieder richtig aufgebaut. Andere dieser Ruinen sind hingegen ganz neu, wurden nur nie fertig gestellt, weil das Geld ausging, oder wegen der (aus deutscher Sicht) abstrusen Praxis, dass man hier erst mal losbaut und später auf eine Genehmigung hofft. Bewohnt sind sie trotzdem.

Heimlich aus der Hüfte geschossen

Das Verhältnis von Dokumentation und Kunst reibt sich am stärksten wohl in den Porträts von Mario Greif. Auf seinen Fahrten mit der Tramlinie 3 hat er die Mitfahrenden fotografiert. Ausdrucksstark in sich gekehrt, vermitteln die einen extrem authentischen Eindruck. Greif hat diese Bilder heimlich aus nächster Nähe geschossen, das Kameraobjektiv aus der Hüfte ausgerichtet, und dann am Display seines angeschlossenen­ Handys feinjustiert. Wie man eben so rumtippt in der Bahn. Entstanden ist der Querschnitt einer multiethnischen Stadtgesellschaft, weil gerade diese Linie durch ganz Sarajevo führt.

Bei all diesen zunächst außerästhetischen Fragen ist ein erstaunlich runder künstlerischer Aufschlag gelungen. Es mag an der eng korrespondierenden Hängung liegen, aber wohl auch daran, dass die gemeinsam lernenden Künstler:innen von der Reise bis zur Präsentation in permanentem Austausch standen.­ Diese Exkursionen unter Leitung der Professor:innen Andrea Rauschenbusch und Peter Bialobrzeski sind längst eine feste Institution an der Bremer Kunsthochschule. Sie produzieren seit Jahren auf extrem hohen Niveau mit einem bemerkenswertem Gespür für die großen Fragen der Zeit: Im Vorjahr hatten die Studierenden Belarus besucht, das damals weit weg schien und heute die Nachrichten dominiert. Davor waren sie im nordirischen Belfast,­ ganz kurz, bevor hier die Brexit-Debatte eskalierte. Nur verstellt die Weltpolitik eben nie den Blick auf den Alltag der Menschen. Ganz ohne Foto holen Jakob Grommas’Field Recordings den Klang Sarajevos nach Bremen: Autos und Muezzin-Gesänge, die man beim Gang durch die Galerie lange nicht bemerkt, weil sie sich so nahtlos in die Illusion eines urbanen Rundgangs einfügen.

„Different States“: bis 25. 10., Bremen, Galerie Mitte im Kubo, www.galeriemitte.eu

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