crime scene: Und die Depressiven beißen die Hunde …
So könnte es einmal aussehen in der Gegend, die wir heute Deutschland nennen: Das Leben konzentriert sich auf die großen Metropolen, wo es eine hervorragende, ökologisch ausgerichtete Infrastruktur gibt und eine exzellente Gesundheitsversorgung. An schlimmen Krankheiten stirbt fast niemand mehr, dafür sorgt eine hervorragende medizinische Forschung und eine Gesundheits-App, die die körperlichen Funktionen der Menschen lückenlos überwacht. In der Provinz dagegen profitieren die Menschen nur wenig von den Angeboten des Systems. Die kleineren Orte verfallen zu Ruinen, niemand will dort wohnen.
Zum Beispiel in der Uckermark, wo der neue Thriller von Zoë Beck seinen Anfang nimmt: Zunächst ist die junge Journalistin Liina enttäuscht von einem Rechercheauftrag, der ins Leere zu führen scheint. Liina arbeitet für eine Agentur der allgemein „Wahrheitspresse“ genannten Gegenöffentlichkeit, die staatlicherseits noch geduldet wird, aber nur undercover operieren kann. Ihr Chef Yassin ist gleichzeitig ihr Liebhaber, und so nimmt sie es auch persönlich übel, dass er sie auf die Spuren einer angeblich von einem Schakal totgebissenen Frau in die Pampa schickt, während er selbst in Frankfurt am Main, der Hauptstadt, einem viel brisanteren Thema nachgeht.
So muss es jedenfalls sein, denn als Liina nach Frankfurt zurückkehrt, erfährt sie dort, dass Yassin sich vor eine einfahrende S-Bahn geworfen habe. Liina und ihre KollegInnen finden bald heraus, dass Yassin einer großen Sache auf der Spur war.
Zoë Beck entwirft für „Paradise City“ eine dystopische Big-Brother-Welt, die in vielen Details erschreckend möglich scheint, weil sie vertraute Elemente integriert. Vor allem ist das „Smartcase“, das alle Personen stets bei sich tragen und das unter anderem die allwissende Gesundheits-App enthält, nichts anderes als ein weiterentwickeltes Smartphone. Wer es ausschaltet, macht sich sofort verdächtig. Noch gibt es Wege, sich der allgegenwärtigen Überwachung wenigstens zeitweise zu entziehen, doch dafür braucht es technisches Know-how.
Zoë Beck: „Paradise City“. Suhrkamp Verlag,Berlin 2020. 280 Seiten, 16 Euro
Die Protagonistin Liina ist medizinisch gesehen ein besonderer Fall und ein kostbares Forschungsobjekt. Die Handlung verknüpft ihr Schicksal mit dem größeren Bild, in dem auch die unbekannte Tote in der Uckermark irgendwann wieder auftaucht: Verblüffenderweise sieht sie aus wie eine bekannte Dirigentin, die zudem mit der Gesundheitsministerin verheiratet ist. Diese Ministerin ist eine ehemalige Schulfreundin von Liina …
Manches in der Handlung ist vielleicht etwas überkonstruiert, damit alles schön zusammenpasst, und das action-getriggerte Ende wirkt wie ein eher schlichter Notausgang aus einem hochambitioniert entworfenen Gebäude. Aber durch dieses lässt man sich gern führen. Zoë Beck ist sehr gut darin, Binnenspannung aufzubauen, fantasievolle und plausible Szenerien zu entwerfen und die Hintergrundstory der Zukunftswelt, in der das alles spielt, in lässigen Andeutungen über den Text zu verstreuen.
Erschreckenderweise erscheint vieles in dieser Welt gar nicht allzu weit entfernt von unserer. Der Trend zur ständigen (Selbst-)Optimierung des Menschen und die selbstverständliche Aussortierung weniger hochfunktionalen Menschenmaterials schon vor der Geburt ist schließlich keine drohende Zukunftsmusik, sondern Realität. Insofern hat Beck die Stellschrauben der existierenden Welt eigentlich nur ein klein wenig weitergedreht und das so entstandene Szenario als Thriller verpackt.
Katharina Granzin
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