Unendlich viele Fragen nach dem Schuss

Tödliche Schüsse auf Terrorverdächtige haben eine traurige Geschichte. Oft werfen sie die Gesellschaft in noch mehr Unsicherheit

Wieder ein Lehrstück dafür, wie schnell sich moralische Kategorien verschieben und absolute und „unantastbare“ Rechte zur relativen Größe werden?

ROM taz ■ Werden wir uns an solche Geschichten gewöhnen müssen? An bis an die Zähne bewaffnete Polizisten, die in der U-Bahn, mitten im Gedränge, einen Mann zu Boden werfen und ihn in Sekundenfrist mit fünf Kopfschüssen exekutieren? Was jetzt in London geschah, ist schon der zweite blutige Vorfall dieser Sorte: Vor wenigen Wochen wurde in gleicher Manier in Ankara ein Terrorverdächtiger auf offener Straße erschossen; die Bilder gingen Anfang Juli um die Welt.

Doch ganz so neu ist diese Variante der „Terrorismusbekämpfung“ nicht. Ob in Italien oder in Deutschland, auch im Feldzug gegen den linksextremen Terrorismus der Roten Brigaden und der RAF gab es Fälle, in denen sich massiv der Verdacht aufdrängte, dass schon wehrlose Terroristen Opfer gezielter Todesschüsse wurden. Als 1993 im Bahnhof von Bad Kleinen der letzte, der tödliche Schuss auf den RAFler Wolfgang Grams fiel, lag der Terrorist nach Zeugenaussagen schon am Boden. Und als 1980 die italienischen Karabinieri mitten in der Nacht einen Unterschlupf der Roten Brigaden stürmten, lagen am Ende des Einsatzes alle vier Brigadisten in Blutlachen.

Sofort sprachen zahlreiche italienische Journalisten von Exekution, denn zu unstimmig war die Rekonstruktion, die die Karabinieri lieferten. Natürlich hatten sie die vier „in Notwehr“ eliminiert. Ein Foto vom Tatort zeigt eine erschossene Brigadistin; nur wenige Zentimeter von ihrer rechten Hand findet sich eine Handgranate – ganz so, als hätte sie jemand dahin gelegt. Wenn eine Explosion droht, muss man den Gegner, den Feind, nicht bloß kampfunfähig schießen, sondern ihn ohne Erbarmen töten – das sagte dieses Bild. Italienische Zeitungen dagegen insinuierten einen Racheakt: In Genua hatten die Roten Brigaden in den Vormonaten vier Karabinieri erschossen.

Weder der Fall von Bad Kleinen noch der von Genua wurde je wirklich geklärt. Schon dies ist ein Lehrstück für heute – ein Lehrstück dafür, wie schnell sich moralische Kategorien verschieben, wie schnell scheinbar absolute und „unantastbare“ Rechte zur relativen Größe werden. Das Verständnis breiter Teile der italienischen Öffentlichkeit wurde selbst jenem Karabiniere zuteil, der im Juli 2001 während des G-8-Gipfels in Genua Carlo Giuliani mit einem Kopfschuss niederstreckte, und die Staatsanwaltschaft fand einen Ballistiker, der per Gutachten bestätigte, dass die Kugel an einem durch die Luft schwirrenden Stein abgeprallt war und nur deshalb ihren Weg in den Kopf Giulianis nahm.

„One down … three to go“, titelte denn auch die Londoner Sun voller Begeisterung am Tag nach den Schüssen in der U-Bahn, und der Daily Express forderte „Shoot all bombers“. Alles geht im Kampf gegen die Terroristen, das ist auch jetzt wieder die Botschaft. Und doch ist diesmal alles anders. Als vor 25 Jahren die Polizeikommandos zuschlugen, waren die Terroristen gleich doppelte Verlierer: Einige ihrer Kämpfer waren physisch eliminiert, ohne dass das einen auch nur minimalen Aufschrei der Öffentlichkeit bewirkt hätte; stattdessen stellte sich bei vielen „rechtschaffenen Bürgern“ Beruhigung ein dank der „Effizienz“, mit der die Staatsfeinde ausgeschaltet wurden.

Die Todesschüsse von London dagegen sind weder eine rechte Drohung für die Kamikaze-Teams von al-Qaida, die mit dem irdischen Leben eh schon abgeschlossen haben, wenn sie in die U-Bahn steigen. Noch können sie Beruhigung unter den Bürgern schaffen. Die dürfen sich nämlich künftig darauf prüfen, morgens vor dem Schritt aus der Haustür, ob sie gerade das falsche Gesicht haben, die falsche Jacke tragen, den falschen Rucksack schultern oder auch bloß wegen übergroßer Nervosität auffallen. Schließlich gilt im Kampf gegen den Selbstmordattentäter zwangsläufig die Maxime „Erst erschießen, dann fragen“. Und so wird die Fahrt mit der U-Bahn zum doppelten Risiko: Steht ein Bomber neben mir – oder ein Spezialagent, der mich für einen Bomber hält? MICHAEL BRAUN