Polizisten unter Verdacht

Nach dem Tod von Jean Charles de Menezes müssen sich die Londoner Terrorermittler erstmals scharfer Kritik stellen

VON RALF SOTSCHECK

Die Londoner Polizei bedauerte gestern, dass sie am Freitag einen Unschuldigen erschossen hat. Der Brasilianer Jean Charles de Menezes, der seit drei Jahren in London als Elektriker arbeitete, wurde am Freitag im Londoner U-Bahnhof Stockwell von einer Antiterroreinheit durch fünf Schüsse getötet. „Dass jemand unter diesen Umständen sein Leben verliert, ist eine Tragödie“, sagte Polizeichef Ian Blair. Er kündigte eine interne Untersuchung an.

Ursprünglich hatte die Polizei erklärt, der Getötete habe in direktem Zusammenhang mit den Anschlägen auf drei U-Bahnen und einen Bus gestanden, bei denen es am Donnerstag keine Opfer gegeben hatte, weil lediglich die Zünder, nicht aber die Bomben explodiert waren. Die Beamten waren bei der Untersuchung der Rucksäcke mit den Bomben auf eine Adresse in Tulse Hill gestoßen. Sie beobachteten das Haus, in dem es mehrere Wohnungen gibt. Als de Menezes am Freitag um zehn Uhr morgens das Haus verließ, folgten sie ihm zur U-Bahn und wollten ihn verhaften. Der Brasilianer fühlte sich von den zivil gekleideten Beamten offenbar bedroht und floh auf den Bahnsteig. Weil er eine ungewöhnlich warme Jacke trug, glaubten die Beamten, er verberge darunter Sprengstoff, und töteten ihn.

Die „Shoot to kill“-Richtlinie

Es war das erste Mal, dass die Richtlinien aus dem Jahr 2003 angewandt wurden, wonach die Polizei bei Verdacht auf einen Selbstmordattentäter gezielte Todesschüsse abgeben darf. Inoffiziell gab es die Politik des „shoot to kill“ allerdings bereits in den Siebzigerjahren in Nordirland. Die Erschießung des 27-jährigen Brasilianers wirkte wie eine Hinrichtung, berichteten Augenzeugen. Zwei in Zivil gekleidete Polizisten hatten de Menezes, der gestolpert war, zu Boden gedrückt, während der dritte aus nächster Nähe fünf Kugeln auf ihn abfeuerte, sagte ein Zeuge.

Alex Pereira, ein Cousin des Opfers, sagte: „Ich kann es nicht fassen, dass sie ihn erschossen haben.“ Er musste seinen Cousin im Leichenschauhaus in Greenwich identifizieren. „Es war schlimm, die Einschusslöcher in seinem Rücken und Hals zu sehen“, sagte er. Diese Aussage widerspricht der Version der Polizei, wonach man de Menezes für einen Selbstmordattentäter gehalten habe. Eine Kugel in den Rücken hätte eine Explosion ausgelöst, wenn er Sprengstoff am Körper getragen hätte.

Massoud Shadjareh von der Islamischen Menschenrechtskommission fragte: „Wie kann man jemanden wegen eines bloßen Verdachts erschießen? Man darf ja nicht mal jemanden auf Verdacht ins Gefängnis stecken.“ Der Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn sagte: „Ich glaube, dass dieses Ausmaß an Gewalt noch mehr Gewalt auslösen wird.“ Londons Bürgermeister Ken Livingstone gab dagegen den Terroristen die Schuld an dieser „menschlichen Tragödie“ und fügte hinzu: „Alle Londoner sprechen der Familie dieses Mannes und seinen Freunden ihr Beileid aus. Die Polizei hat getan, was sie für notwendig hielt, um die Bevölkerung zu schützen.“

Brasilien verlangt Aufklärung

De Menezes Großmutter Zilda, die auf einem Bauernhof im Süden Brasiliens lebt, sagte: „Jean war ein fleißiger, höflicher und intelligenter Junge, der immer Geld nach Hause geschickt hat. Gott oder irgendjemand muss jetzt für Gerechtigkeit sorgen.“ Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass die betreffenden Beamten von einem weltlichen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Der ehemalige Polizeichef John Stevens, der 2003 die „Shoot to kill“-Order herausgegeben hatte, rechtfertigte das Vorgehen der Polizei: „Es gibt nur einen sicheren Weg, einen Selbstmordattentäter zu stoppen, und das ist, sein Gehirn sofort zu zerstören, vollständig.“

Die brasilianische Regierung erklärte, man sei über die Todesschüsse „entsetzt und verblüfft“. Außenminister Celso Amorim, der am Samstag nach London flog, um an Gesprächen über UN-Reformen teilzunehmen, verlangte von seinem britischen Amtskollegen Jack Straw eine Erklärung der Umstände, die zu de Menezes’ Tod führten.

Zwischen den Attentätern vom Donnerstag und denen vom 7. Juli bestand offenbar eine direkte Verbindung. Die Polizei gab am Samstag bekannt, dass mindestens zwei Männer aus jeder Gruppe im Sommer vorigen Jahres gemeinsam an einem Kurs für Wildwasserkanufahren im walisischen Snowdonia teilgenommen haben. Außerdem seien die Bomben, die beide Gruppen benutzt haben, von der gleichen Bauart gewesen. Im Gegensatz zur ersten Gruppe, von denen drei Mitglieder pakistanischer Abstammung waren, sollen die Attentäter vom vorigen Donnerstag jedoch Afrikaner sein. Die Polizei stürmte am Freitag unter Einsatz von Tränengas zwei Häuser in London und nahm zwei Männer aus Somalia und Äthiopien fest. In welcher Verbindung sie zu den Attentaten stehen, erklärte die Polizei bisher allerdings nicht.