Mehr Tempo für die Schlauen

Im neuen Schuljahr wird es Superschnellläufer-Klassen für Hochbegabte geben. Dafür hat sich ein Verein betroffener Eltern eingesetzt. Denn Hochtalentierte drohen im Schulalltag unterzugehen

VON KATHRIN SCHRADER

Das Hausaufgabenheft strotzt vor Einträgen in roter Tinte: „Matthes schwatzt im Unterricht … Matthes spielt … Matthes passt nicht auf …“ Und dennoch ist der Zehnjährige aus Pankow eines von über 1.200 Berliner Kindern, die eine der neuen Superschnellläufer-Klassen besuchen werden. Diese gehen im neuen Schuljahr an elf Berliner Gymnasien erstmals an den Start. Ziel ist es, das Potenzial leistungsstarker und hochbegabter Schüler zu fördern.

Zutritt zu den Eliteklassen hat, wer einen Intelligenztest besteht und gute Noten und eine Empfehlung der Grundschule vorweist. Zwar ist Matthes ein guter Schüler. Auf seinem Zeugnis stehen, abgesehen von der Drei in Bildender Kunst, nur Einsen und Zweien, doch eine Empfehlung seiner Lehrer bekam er nicht. Dennoch steht außer Frage, dass Matthes ein potenzieller Superschnellläufer ist, denn beim Intelligenztest steckt er jeden Streber in die Tasche.

Beinahe hätte niemand bemerkt, dass Matthes so ein Schlaukopf ist. Mit acht Jahren fand er das Leben zu schwierig und wollte sterben. Die wenigsten würden solche depressiven Äußerungen mit hohem geistigem Potenzial in Verbindung bringen. Matthes hatte Glück. Seine Psychologin tat genau dies. Nach dem Intelligenztest war die Diagnose klar: Hochbegabung. Zirka 2 Prozent der Weltbevölkerung aus allen sozialen Schichten gelten als hochbegabt. Ihr IQ liegt schon in der Kindheit bei über 130 Punkten. Ihnen wird auch soziale Kompetenz bescheinigt. Da kommt kein Mikrochip mit. Matthes liebt Katzen. Er kennt Adressen und Namen sämtlicher Katzen, die er auf der Straße trifft. Später möchte er Tierarzt werden. Die Schule langweilt ihn. Hausaufgaben öden ihn erst recht an. Intelligenztests hingegen machen ihm Spaß. „Beim Aufnahmetest für die neue Klasse ist er aufgeblüht“, erzählt seine Mutter.

Schnell denkende Schüler

Schnelldenker haben keineswegs von vornherein die besseren Karten. Denn geschwind schaltende Synapsen machen das Leben nicht leichter. Im Gegenteil. Der Ärger beginnt schon im Kindergarten. „Hochbegabte ringen in ihrer Kindheit verzweifelt darum, so zu sein wie die anderen. Es kann ihnen nicht gelingen, ebenso wie es Minderbegabten nicht gelingen kann, mit Gleichaltrigen Schritt zu halten“, erklärt Jutta Billhardt, Autorin des Buches „Hochbegabte. Die verkannte Minderheit“ und Gründerin des Vereins Hochbegabtenförderung.

Billhardt hat selbst zwei hochbegabte Söhne. Beide haben Eliteuniversitäten absolviert und wären doch, hätte es beispielsweise das Schüleraustauschjahr in den USA nicht gegeben, als mittelmäßige Schüler versauert – das Schicksal vieler abstrakt-logischer Querdenker, deren geistiges Potenzial unerkannt bleibt – oder als Eigensinn missverstanden wird.

Da soll ein Mädchen im Kindergarten ein Strichmännchen zeichnen. Es findet die kindliche Darstellung viel zu oberflächlich. Die Aufforderung der Erzieherin, einen solchen „Menschen“ zu zeichnen, beantwortet es mit der Frage: „Kannst du mir denn zeigen, wie man eine Kniescheibe zeichnet?“

Ein anderes Beispiel: Die Schulärztin fordert einen Jungen auf, auf dem weißen Strich zu laufen und anschließend wieder zurück. Der Junge läuft auf dem weißen Strich und anschließend rückwärts wieder zurück. Die Ärztin bescheinigt ihm mangelnde Schulreife, da er die Aufgabenstellung nicht verstanden habe. Der Junge verteidigt sich: „Du hättest mir sagen sollen, dass ich mich umdrehen muss, bevor ich zurücklaufe.“

Wirklich lehrplankompatibel ist ja niemand, und man wünscht allen Schülern, dass sich jemand mit dieser Vehemenz für neue Lehrpläne einsetzt. Im Fall der Hochbegabten spitzt sich der Konflikt zwischen kreativem Denken und dem geforderten Wiederkäuen von Wissen jedoch zu. Wird auf ihre Fähigkeiten nicht eingegangen, gehen sie im Schulbetrieb unter. Nicht selten bleiben sie ihren Mitschülern als Klassenclown in netter Erinnerung.

Nachhilfe für Lehrer

Damit das Talent der Kinder früher erkannt wird, schult und sensibilisiert der 1994 gegründete Verein für Hochbegabtenförderung hunderte Erzieher und Lehrer. Zudem werden in den kleinen Räumen des Vereins in Friedrichshain während der Sommerferien Projekttage angeboten und etwa physikalische und chemische Experimente durchgeführt. Wenn der Dozent im Computerkurs erklärt, wie man einen Kreis programmiert, und auf dem Monitor eines der jungen Teilnehmer schließlich eine Strecke zu sehen ist, dann heißt es nicht: Aufgabenstellung verfehlt! Stattdessen wird nachgefragt: Warum? „Weil ein Kreis keinen Anfang und kein Ende hat“, erklärt der achtjährige Tim, „habe ich versucht, herauszufinden, was geschieht, wenn ich einen Anfang und ein Ende für meinen Kreis festlege.“

„Jeder sieht ein, dass Boris Becker niemals so gut im Tennis geworden wäre, wenn er nicht mit den Besten trainiert hätte“, sagt Jutta Billhardt. „Warum wird in diesem Land das, was im Sport als selbstverständlich gilt, nicht auch auf geistigem Gebiet anerkannt?“ Um dieses Ziel zu erreichen, war Billhardts Verein auch an der Einrichtung der neuen Superschnellläufer-Klassen maßgeblich beteiligt. Im vergangenen Jahr kämpfte Billhardt in einer speziellen Arbeitsgruppe des Senats um ein schulisches Angebot für Hochbegabte. Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hat sie jedenfalls überzeugt.

Dennoch bleibt Billhardt skeptisch. Sie befürchtet, dass viele Lehrer lediglich den Lehrplan in der Hälfte der Zeit durchziehen wollen. Damit wäre keinem geholfen. Bisher gibt es in Deutschland nur zirka 300 Lehrer, die das so genannte Echa-Diplom des European Council for High Ability erworben haben, eine Qualifizierung für den Unterricht von Hochbegabten. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Jutta Billhardt.

Projekttage für Hochbegabte im Verein Hochbegabtenförderung in Friedrichshain. Infos unter: www.hbf-ev.de Telefon: (0 30) 29 77 88 95