berlin viral
: Alles ballt sich um den Kühlschrank

Wohl der Galerie, die einen breiten Bürgersteig vor dem Eingang hat, geht es mir durch den Kopf, als ich im Soldiner Kiez bei der Eröffnung von Hans HS Winklers Ausstellung „Grenzziehung“ aufschlage.

„Grenzziehung“ könnte glatt Pandemie-Modewort werden, Abstände sind schließlich nichts anderes als mit Pufferzonen ausgepolsterte Grenzen. Hier, vor dem Spor Klübü, dem Projektraum des Soundkünstlers Matthias Mayer, sind die Grenzziehungspolster recht geschrumpft. Alles ballt sich um den kleinen Kühlschrank auf dem Bürgersteig, um sich bei der Eröffnung der Ausstellungsserie „Re-Imagining America“ mit Bier, Limo und anderen gekühltem Zeug einzudecken.

All das fand natürlich draußen statt, auf dem eben vergleichsweise üppigen Bürgersteig vor dem Projektraum. Drinnen hielt sich selten jemand auf. Corona führt zu einer Art Vakuumisierung der Kunst. Die Kunsträume selbst sind abgesaugt von potenziellen Betrachter*innen, die Gemeinschaft dann eher draußen, jenseits der Kunst, herstellen. Die Werke bleiben viral unbefleckt, Eintritt war selbstverständlich nur mit Mund-Nasen-Abdeck-Textil möglich.

Das Schwellenüberschreiten hier lohnte sich immerhin. Man traf zum Beispiel auf frühe Maskenmänner. Im fernen Jahr 2010 heuerte Aktionskünstler Winkler ein paar mexikanische Tagelöhner an, stattete sie mit farbigen Tüchern vorm Gesicht und schwarzen Fahnen aus und ließ sie in einem geliehenen Pick-up durch San Franciscos Straßen ziehen. Der Auftritt erinnerte an die damals berühmten Maskenmänner (und -frauen, aber die engagierte Winkler offenbar nicht) der revolutionären Bewegung EZLN im Hochland von Mexiko. „Buy a Revolution“ nannte der Künstler die Aktion auch. Drei Fotos vom Event sind in der Ausstellung zu sehen.

Winkler, ein Freund des Untergründigen und damit jahrzehntelang schon im Land der unbegrenzten Oberflächen mit einigem Erfolg unterwegs, suchte sich als Zielobjekt einer weiteren Intervention die Hawaii-Insel Kaho'olawe aus. Sie ist die kleinste des Archipels – und wurde seit dem Zweiten Weltkrieg als Trainingsfläche für die US-Bomberflotte benutzt.

„Wer an den Traumstränden der Nachbarinseln lag, hörte es immer wieder in der Nähe krachen und am Himmel blitzen“, beschrieb Winkler die Nähe von Militär und Tourismus. In den 1970er Jahren versuchte eine indigene Gruppe die Insel zu besetzen. Erst 1990 wurde das Bombentraining eingestellt und 1998 begonnen, Munition und Blindgänger zu bergen. Bei einem Großfeuer 2020 stellte die Feuerwehr allerdings die Löscharbeiten ein – aus Furcht vor all dem Sprengstoff, der noch immer auf der Insel lag. Winkler ließ diese wohl meist bombardierte Insel der Welt in einer kartografischen Intervention von offiziellen Landkarten verschwinden.

Ebenso ausgestellt ist ein Wörterbuch Apache – Deutsch. Winkler erstellte es als eine Art kulturellen Rücktransfer von Reservaten der Apachen, deren Bewohnern der Sachse Karl May als ein zwar schriller, aber auch nicht völlig unsympathischer Bewahrer von Kulturtechniken ihrer Vorfahren gilt, hin zu den drei sächsischen Gefängnissen, in denen der First-Nation-Bewunderer May einst selbst einsaß. Gefangene konnten mit dem Wörterbuch lernen, was „frei“ auf Apache bedeutet – „doo isda daa“ – oder auch „gefährlich“ (bé gó dzig) oder „ich werde verrrückt“ (shágóchiid). Unter dem Hashtag #shágóchiid könnte man dann glatt die gesammelten Twitterwerke des aktuellen Präsidenten versammeln, denke ich noch und werfe mich fürs nächste Bier in den Menschenklumpen um den Kühlschrank. Bier soll übrigens „biyah sig'azi“ heißen.

Tom Mustroph