sommergeziefer
: Des Käfers Todeskampf

Es gab einmal eine Zeit, da gab es noch Urgroßmütter, die wunderliche Ideen in die Welt setzten: „Bös’ muss Bös’ vertreiben“ etwa, hat meine immer gesagt. Dass sie damit weder „Auge um Auge“ meinte noch das Duell „Lebertran gegen ungezogene Kinder“, sondern die Geheimnisse der Homöopathie in ihrem bescheidenen Alltag ahnte, ohne sie zu kennen, das hab’ ich erst viel später begriffen.

Weniger treffsicher, dachte ich lange, verhält es sich mit einer anderen Weisheit aus ihrem unerschöpflichen Schatz, die da heißt: „Schmeißfliegen heiß fliegen!“

Weil sich alle Rätsel der Vorfahren irgendwann erschließen, wurde auch dieses in einer Weddinger Nacht endlich gelöst: Schmeißfliegen heiß fliegen – da steckt das Patentrezept drin, das einen nächtlichen Kleinkrieg zwischen Mensch und Mücke deeskalieren lässt. Kaum nämlich werden die Vorhänge zugezogen, werden zum Ärger aller die Schmeißfliegen wach, die sich darin versteckten. Mit penetrantem Gesurre schwirren sie um die Nachttischlampe und wollen sich lang nicht beruhigen. Morgens um vier Uhr aber, mit dem ersten Sommersonnenlicht, werden sie schon wieder wach und vergällen dem unruhig Schlafenden auch noch den Rest dieser Nacht.

„Schmeißfliegen heiß fliegen!“ In meinem Innern arbeitete der Satz so lange, bis ich ihn begriffen habe: Schmeißfliegen müssen umgeleitet werden! Ja umgeleitet! Und zwar ins Licht! An die Sonne!

Das geht so: Kaum haben sie sich mit ihrem Propellerlärm im Schlafzimmer breit gemacht, werden im Zimmer nebenan die Lichter angeknipst, die Lampen neben dem Bett aber ausgeschaltet. Schmeißfliegen heiß fliegen. Wie eine gehörnte Leitkuh wendet sich das Insekt gegen den hell erleuchteten Raum. Ist es aus dem Schlafzimmer verschwunden, machen wir die Tür zu. Vom Wohnzimmer aber wird die Schmeißfliege weiter geleitet. Erst links, dann geradeaus, dann rechts. Zuerst in den Flur, dann in die Küche und endlich ins Bad am anderen Ende der Wohnung. Immer dort, wo sie hin soll, wird das Licht an-, von dort, wo sie verschwinden soll aber, wird es ausgeschaltet. Im Bad am Ende der Wohnung darf sie nächtigen. Weil es darin nur ein kleines Fenster gibt, das offen bleibt und auch für simples Geziefer nicht zu verfehlen ist, ist sie am Morgen entweder verhungert oder verschwunden.

So weit das Know-how meiner Urgroßmutter. Was Dickmaulrüssler angeht, die unsere Balkonpflanzen zerfressen, sind wir auf uns selber gestellt. Finden wir welche, werfen wir die flugunfähigen Monster über die Balustrade. Rette sich, wer kann. Neulich allerdings hatten wir einen unerwarteten Helfer. Ein Dickmaulrüssler verfing sich im Netz einer nur halb so großen Spinne. Schadenfroh haben wir zwei Tage lang des Käfers Todeskampf verfolgt. Nicht dass es unsere Blumenpracht rettet, aber immerhin: Einen mehr sind wir los.

Unsere Probleme im Umgang mit Geziefer ist damit noch nicht zu Ende. Neulich mussten wir – ohne Urgroßmutters Ratschläge in Sicht – fassungslos zusehen, wie sich aus einer Erdbeerschale eine Kakerlake wand. Unser Kriegsrat führte nicht weiter. Töten? – Das schaffen wir nicht. Im Innenhof aussetzen? – Unmöglich! Es könnte ihr dort gar gefallen. Genauso wenig kam der Mittelstreifen auf der Straße im Wedding in Frage. Inzwischen lag sie gefangen in einem Einmachglas.

Plötzlich die Idee: Wir setzen sie im Plötzensee aus. Soll sie doch an Land schwimmen oder von Fischen gefressen werden. Von der Logik her erinnert das an Hexenverbrennung in nachmodernen Zeiten! Aber was soll’s? Auch wir sind nicht frei von der Verachtung für die Kreatur.

Für die Kakerlake allerdings kam es schlimmer. Nachdem wir zwei Tage lang vergessen hatten, sie mitzunehmen zum See, wurde sie mit Wasser und Melone im Glas versorgt. Nach einer Woche stand sie indes immer noch auf dem Regal und kämpfte gegen ihre Behausung. Unglücklicherweise hatten wir uns die Woche darauf schon an ihren Anblick gewöhnt. Vorgestern lebte sie noch. Gestern nicht mehr.

Alle Achtung: Zwei Wochen Isolationshaft hat sie überstanden. Jetzt aber plagen mich Schuldgefühle: Was, wenn meine Ahnin – wider das christliche Auge-um-Auge – in dieser Kakerlake wiedergeboren war?

WALTRAUD SCHWAB