TIM CASPAR BOEHME LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Das zerrissene Subjekt

Jubilare, die der Nachwelt etwas zu lesen hinterlassen haben, ehrt man am besten damit, dass man ihre Bücher zur Hand nimmt. Im Rousseau-Jahr ist zum 300. Geburtstag des französischen Philosophen und Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau jetzt sein letztes Buch, in seinem Todesjahr 1778 beendet, beim Verlag Matthes & Seitz in neuer Übertragung erschienen. Schon beim Titel merkt man auf: Der Übersetzer Stefan Zweifel hat die bisher meist üblichen, etwas behäbig-biederen „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ durch die mit existenziellem Pathos drängenden „Träumereien eines einsam Schweifenden“ ersetzt.

Rousseaus Nöte, die dieser darin schildert, rechtfertigen die Änderung allemal. Statt gemütlich ein paar Runden vor der Haustür zu drehen, streift er ziellos umher, seine Gedanken kreisen um sich selbst, brechen mal in diese, mal in jene Richtung aus, setzen immer neu zur Prüfung des eigenen zurückgelegten Wegs an und verhandeln so die Frage des philosophischen Lebens in scheinbar flüchtiger Form. Selbst rhythmisch passt der Titel besser.

Neuigkeiten finden sich auch zwischen den Buchdeckeln. Zweifel hat sich des Manuskripts angenommen und alle von Rousseau verworfenen Passagen im Text berücksichtigt. So wird aus dem dramatischen Satz „Ich irre über jenen Planeten, auf den ich geschleudert wurde“ die etwas abgemilderte, fast komische Variante „Ich irre über jenen Planeten, auf den ich von jenem herabfiel, den ich zuvor bewohnte“. Damit nicht genug. Die Spielkarten, die Rousseau auf seinen Gängen über die St. Petersinsel im Bielersee mit sich trug und auf deren Rückseiten er Notizen anfertigte, die später Eingang in die „Träumereien“ fanden, sind zum ersten Mal in einer deutschen Ausgabe mit abgedruckt. Ihre knappen, oft abgehackten Sätze geben einen deutlichen Eindruck von der Zerrissenheit des Autors, der sich selbst immer wieder durchstrich.

Als weitere Zugabe bietet Zweifel gut 100 Seiten Kommentar. So hält man Texte lebendig.

Der Autor ist ständiger Mitarbeiter der taz