die taz vor zehn jahren über den krieg in tschetschenien:
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„Wenn es mit den Verhandlungen so weitergeht, müssen wir Grosny erneut besetzen“, sagte neulich ein russischer Hauptmann. Er sprach das offen aus, was seine Generäle im Hinterkopf haben: Die Anerkennung tschetschenischer Unabhängigkeit würde bedeuten, daß der ganze Krieg nicht nur zwecklos, sondern auch ein Verbrechen war, war doch die „territoriale Integrität“ Rußlands der Vorwand, um diesen Feldzug anzufangen.

Boris Jelzin steht vor einer unlösbaren Aufgabe: seine Blamage im Kaukasus zu rechtfertigen und zugleich den Krieg zu beenden. Paradoxerweise gleicht die heutige politischen Situation bis aufs Haar der vor dem Kriegsausbruch. Beide Seiten beschwören nach wie vor ihre „heiligen“ Prinzipien: die Unabhängigkeit beziehungsweise Integrität der Heimat. Dabei geht es Jelzin wie auch Dudajew nur um eines: an der Macht zu bleiben. Wenn sie nun auf ihre feierlich proklamierten Prinzipien verzichten, sind sie politisch tot.

Der russische Chefunterhändler Michailow hegt noch eine Hoffnung. Er greift auf jenes Rezept zurück, das Leo Trotzki anläßlich der Friedensverhandlungen der Sowjetmacht mit dem Deutschen Reich vorgeschlagen hatte: „Den Krieg beenden, aber keinen Friedensvertrag unterzeichnen.“ Gestern besprach Michailow mit Jelzin eine ähnliche Lösung: die politischen Probleme offenzulassen und sich auf den militärischen Vertrag zu konzentrieren. Nur werden sich die Tschetschenen kaum ihr einziges Druckmittel nehmen lassen. Wie bekannt, wurde der Vorschlag von Trotzki in Brest-Litowsk nicht akzeptiert. Wenn sich die Position Jelzins und Dudajews nicht ändert, besteht wenig Hoffnung auf eine friedliche Lösung.

Boris Schumatsky, 27. 7. 1995