Der Sprung des Albatros

FILM Früher oder später kreuzen sich all ihre Wege am Kai: Einen Sommer lang, vom ersten bis zum letzten Ferientag, war Andrei Schwartz für seine Doku „Am Pier von Apolonovka“ mit seiner Kamera an einer heruntergekommen Mole in der Bucht von Sevastopol

Am Pier trifft Schwartz auf zu viele Geschichten, um sie alle zu erzählen

VON ROBERT MATTHIES

Albatrosse sind zwar gute Flieger. Mit dem Start oder der Landung hapert es allerdings ein wenig: Nicht selten überschlägt sich der Seevogel wegen überhöhter Geschwindigkeit auf der Landebahn. Und fällt die Windgeschwindigkeit unter 12 km / h, reicht der Aufwind nicht und er muss bleiben, wo er ist: am Boden.

Für den Regisseur Andrei Schwartz sind die Jungen und Mädchen an der Mole von Apolonovka in der Bucht von Sevastopol Albatrosse, ein Sinnbild für das Dilemma der größten Stadt auf der ukrainischen Krim-Halbinsel: für Glamour zu arm, für einen Schrottplatz zu lebendig. Einen Sommer lang, vom ersten bis zum letzten Ferientag war Schwartz mit seiner Kamera an dem bröckeligen Kai, der für das ehemalige Werftarbeiterviertel am Hafen die wichtigste Bühne ist. Früher oder später kreuzen sich hier all ihre Wege: der 14-jährige Pusch interessiert sich weniger für Mädchen als für Mofas. Nastja wiederum, 13 Jahre alt, trauert noch immer ihrer ersten großen Liebe hinterher, beinah wäre sie vor kurzem an einer Überdosis Drogen gestorben. Aber auch die Alten kommen hierher. Die 80-jährige Galina erzählt voller Tränen von der Bassstimme ihres einstigen Geliebten und Sergej, 85 Jahre alt, eine Bademütze zum Schutz vor der Sonne auf dem Kopf, möchte keinesfalls auf Sex verzichten.

Am Pier von Apolonovka trifft alles aufeinander: Das Scheitern, die Versöhnung, der Trotz. Die Leichtigkeit, der Lebensmut und das Glück, wenn die „Albatrosse“ zum Sprung ansetzen, gleichsam ein Initiationsritus für die Kinder von der Krim. Und die tiefe Traurigkeit der hier Gestrandeten. Wie Wowa und Andrej, einst als Häftling und Milizionär auf beiden Seiten des Räuber-und-Gendarm-Spiels, sind nun beide Flüchtlinge vor dem Nichts.

Auf zu viele Geschichten trifft Schwartz, um sie alle zu erzählen. Stattdessen zeigt „Am Pier von Apolonovka“ die Mole als Durchgangsstation und Wartesaal. Als lebendiges Zentrum all jener „unwichtigen Ereignisse“, die erahnen lassen, was da draußen in der großen weiten Welt alles passiert.

■ Premiere mit Regisseur Andrei Schwartz: So, 4. 10., 19.30 Uhr, Metropolis, Steindamm 54. Weitere Termine: Mi, 7. 10., 21.15 Uhr + Do, 8. 10., 21.30 Uhr